zu Hause, 22. April 15
I. Germinal - der humorlose Idealismus
Deutsche Ideen enden tödlich. Davon erzählt uns der französische Naturalist Emile Zola. In seinem Roman „Germinal" von 1885 ließ er französische Kohlearbeiter in einen erbitterten Streik treten, nachdem sie einer von ihnen mit den Thesen von Karl Marx infiziert hat. Das Ganze geht nicht gut aus, weil der Mensch erstens menschlich und zweitens doch nur ein Tier ist: Der Streik scheitert an der Gier der Reichen, am Hunger der Streikbrecher und an den blutigen Mordgelüsten Einiger. Zolas Experiment des Sozialismus soll zeigen: Streiks im Namen des deutschen Idealismus enden zumeist in Blut und Asche - alles in allem sehr humorlos.
Nun wäre es vermessen, den deutschen Bahnstreik mit dem Arbeitskampf der verelendeten Kohlearbeiter im 19. Jahrhundert zu vergleichen. Dennoch zeigt sich in Deutschland derzeit das gleiche freudlose Prinzip: Stöhnen hierzulande doch mittlerweile die vernünftigsten Menschen darüber, dass „das mit den Lokführern langsam niemand mehr so richtig versteht". Damit macht man es sich unnötig schwer. In Deutschland will man immer nur verstehen warum, und glaubt stets genau zu wissen, wann mal genug ist. In Zeiten des Bahnstreiks ist jeder Deutsche ein Lokführer. Und glaubt, die Nachfrage an Streiks sei nun aber echt mal befriedigt. Charmanter wäre es, mal wieder auf die Nachfrageseite zu wechseln, denn ja: Der Streik ist auch ein Angebot - an uns.
II. Zazie - der Streik als Angebot
Tief betrübt, fing Zazie an zu weinen. Sie empfand daran ein solch lebhaftes Vergnügen, dass sie sich auf eine Bank setzte, um es beim Flennen etwas bequemer zu haben.
Die kleine Heldin in Raymond Queneaus Roman „Zazie in der Métro" von 1959 ist sauer. Sie ist aus der Provinz auf Besuch bei ihrem Onkel in Paris. Alles was sie will, ist Métro fahren. Aber die streikt. Zazie ist sauer. Und schiebt ihren gesamten Weltschmerz dem Streik in die Schuhe, was sich dann zur Obsession hochschaukelt: Je weniger die Métro fährt, desto mehr will sie Métro fahren. Kindsein ist Streik in Dauereskalation. Und Erwachsene sind gut beraten, dem Nachwuchs gegenüber nicht den Arbeitgeber zu markieren. Das Buch, das wir lesen, ist eine Einladung auch an uns, streikend den Streik zu vergessen.
Zazie fährt mit dem Taxi durch ein paradoxes Fantasie-Paris - in dem sich selbst der Taxifahrer permanent zu verirren scheint. Die Rationalität der Erwachsenen löst sich in Wortspiele auf, das Buch lässt einen als Leserin staunend hinterhertaumeln. Armut, Gewalt, „Hormosechsualität" - kein Thema hält der Roman von uns und der kleinen Göre fern, um es alsbald mit dem unwiderstehlichen Charme sprachlicher Anarchie zu überwuchern. Auch für uns ist der Streik ein geistiges Abenteuer, wenn wir nur die Vernunft endlich mal in den Ausstand treten lassen. Denn letztlich geht es den Wenigsten um die ausgefallene Zugfahrt.
III. Pragmatismus - Der Streik als Nicht-Katastrophe
Für einen ordentlichen Streik fahren in Deutschland immer noch zu viele Züge. Da sitzt man an seinem Münchner Schreibtisch am offenen Fenster, hoch über dem Bahndamm, freut sich auf einen Lesenachmittag in Stille und Vogelgezwitscher, frei vom ewigen Quietschen der bremsenden Güterzüge, dem Rumpeln der S-Bahnen, dem Bollern der Dieselloks - aber eigentlich...
Die Franzosen haben längst gelernt, den Streik als festen Bestandteil ihres Alltags zu akzeptieren. Denn immer streikt auf irgendeiner Bahnstrecke irgendeine der zahlreichen Gewerkschaften: Sei es wegen der Pension, wegen der Bildungspolitik oder aus Solidarität mit einem Kollegen, der am Morgen auf dem Bahnsteig von einem pöbelnden Schulkind beleidigt wurde. Auf allen Seiten beherrscht den Streik ein stoischer Pragmatismus. Auch auf Nachfrageseite. Streik ist dort nichts Absolutes, sondern eine relative Beeinträchtigung des Feierabendverkehrs.
Wie so oft nach meinen Seminaren an der Uni in der Pariser Vorstadt betrat ich die Bahnstation, um mich beim Durchqueren der Drehkreuze kurz auf einem Bildschirm in der Ecke zu erkundigen, nur interessehalber: „Deux sur trois trains circulent." Zwei von drei Zügen fahren. So einfach ist das auf Französisch. Und ebenso unaufgeregt gesellt man sich zu den anderen Wartenden. Müßig zu fragen, ob der Zug leerer wäre, wenn einmal nicht, also überhaupt nicht gestreikt würde. Paris ist voller Menschen. Auch in drei von drei Zügen wäre das nicht anders.
In Deutschland hingegen haben sie immer wieder diese wüstenhafte Vision eines leeren Hauptbahnhofes, diesen Albtraum, die Einzige auf dem Bahnsteig zu sein. Doch man ist nicht die Einzige. Und es ist nicht die letzte S-Bahn für heute. Wer einen Streiktag lang an meinem geöffneten Fenster in Ruhe ein Buch lesen wollte, weiß: Eine von zwei Bahnen poltert weiter. Weniger gibt so ein Streik nicht her.
Tobias Krone