17 subscriptions and 4 subscribers
Article

Tabellenführer Bayer Leverkusen: Die aufregendste Mannschaft der Bundesliga

Als Leverkusen im Sommer Kai Havertz und Kevin Volland abgab, verkauften sie damit auch ein Drittel der eigenen Tore. Trotzdem empfängt Bayer jetzt als Spitzenreiter den FC Bayern. Wie machen die das?

Das Spiel war längst entschieden, als Nadiem Amiri zum Symbol einer neuen Leverkusener Mannschaft wurde. Amiri, 24 Jahre alt, deutscher Nationalspieler, wird in Leverkusen für seine Dynamik, seine Torgefahr und Ideen geschätzt. Das Spiel gegen den Ball hatte man bislang eher nicht zu seinen Stärken gezählt.


Im rheinischen Derby gegen den 1. FC Köln am Mittwochabend hatte Amiri gerade zwei Kölner umkurvt, doch am dritten war er hängengeblieben. Doch nur Sekunden danach hatte Amiri den Ball zurückerobert. Er ballte die Fäuste, dann schrie er - so hat man ihn noch nicht oft gesehen. Draußen stand der Trainer Peter Bosz und sah sehr zufrieden aus. Es lief die 69. Minute, Leverkusen führte 4:0.


Amiri hatte ein starkes Spiel gemacht, ein Tor vorbereitet und zwei weitere initiiert. In einer grandiosen Leverkusener Mannschaft war er der auffälligste Spieler. An seinem Beispiel zeigte sich, dass das für die Fußballer von Bayer Leverkusen gerade kein Widerspruch ist: der unbedingte Teamgedanke und die freie Entfaltung eines jeden Einzelnen.


"Natürlich ist Bayern schlagbar"

In der Bundesliga ist Bayer Leverkusen die Mannschaft der Stunde. Am Samstagabend empfängt sie als Tabellenführer den FC Bayern zum Topspiel (18.30 Uhr/Liveticker bei SPIEGEL.de; TV: Sky). 28 Punkte aus zwölf Spielen, als einziges Team noch ohne Niederlage, die zweitmeisten Tore erzielt und die zweitwenigsten kassiert. Leverkusen ist derzeit das aufregendste Team der Liga. Und es traut sich einiges zu: "Das wird ein geiles Spiel. Und natürlich ist Bayern schlagbar", sagte Amiri. Mehr muss man über die Stimmung gar nicht erzählen.


Man hätte eine solche Entwicklung vor einigen Monaten kaum für möglich gehalten, nachdem Leverkusen im Sommer nach der verpassten Qualifikation für die Champions League erst Kai Havertz zum FC Chelsea und dann Kevin Volland zur AS Monaco abgegeben hatte. Um den Stellenwert beider für das Team zu verstehen, reicht schon ein Blick auf die Torquote: 61 Saisontreffer hatte Bayer in der vergangenen Bundesligaspielzeit erzielt, mehr als ein Drittel davon stammten allein von Havertz (zwölf) und Volland (zehn).


Sie zu verkaufen war in etwa so, als hätte der FC Bayern (insgesamt 100 Saisontore 2019/2020) Robert Lewandowski abgegeben. Der Pole hatte 34-mal getroffen.

Leverkusens Trainer Bosz, 57, hat kürzlich erzählt, dass er sich in dieser Zeit viele Gedanken gemacht hat, wie er die Abgänge kompensieren könne. Es hat dazu geführt, dass der einstmalige Angriffsdogmatiker aus den Niederlanden plötzlich zum Pragmatiker geworden ist.


Schlüsselspieler Baumgartlinger

Zuvor hatte Leverkusen viel über Havertz und gern mit nur einem Kontakt durch das Zentrum gespielt. Nun aber stärkte Bosz das Flügelspiel. Er wies die Tempodribbler Leon Bailey und Moussa Diaby an, Eins-gegen-eins-Situationen zu suchen und mehr zu flanken als zuvor. Die Statik des Spiels ist nun eine andere, der Angreifer Lucas Alario, zuvor oft Ersatz, steht schon bei acht Ligatreffern. Mit Patrik Schick steht ein weiterer kopfballstarker Stürmer im Kader (drei Saisontore).


Bosz setzt zudem stärker auf die Defensive. Er verschob die Abwehrkette einige Meter nach hinten, auch die Ausflüge der beiden Außenverteidiger sind seltener geworden. Leverkusens Spiel wirkt nun ausbalancierter, was auch mit einem Spieler zu tun hat, der in seinen ersten vier Jahren bei Bayer nur selten gesetzt und doch immer wichtig war: Julian Baumgartlinger.


Eigentlich spielte auf Baumgartlingers Position im defensiven Mittelfeld meist der Kapitän Charles Aránguiz, doch der fehlt seit dem vierten Spieltag wegen einer Muskelverletzung. Für das Spiel von Bayer Leverkusen, das haben die vergangenen Wochen gezeigt, muss das nicht unbedingt ein Nachteil sein. Baumgartlinger vereint viele Eigenschaften, die ein Sechser braucht: Er antizipiert gegnerische Angriffe früh und steht oft schon dort, wo der Gegner noch eine Lücke vermutet. Fehlpässe sieht man von dem 32-Jährigen selten.


Doch die größte Stärke des Österreichers ist eine, die oft übersehen wird: Es sind seine Kommandos, die Nadiem Amiri und dem nur 17 Jahre alten Florian Wirtz Orientierung geben. Baumgartlinger sichert ab, organisiert, korrigiert. Er lässt andere glänzen.


Keine Schwäche mehr bei Standards dank neuem Co-Trainer

Zwei Tore hat Baumgartlinger auch schon selbst erzielt - eines nach einer Ecke. Überhaupt hat sich Leverkusen bei Standardsituationen stark verbessert. Das ist das Werk von Rob Maas, dem neuen Assistenztrainer. Maas und Bosz kennen sich aus den Niederlanden, sie hatten schon bei Vitesse Arnheim zusammengearbeitet. Im Sommer hatte Bosz bei seiner Analyse eine Schwäche bei ruhenden Bällen festgestellt und sich dann daran erinnert, dass Maas in dieser Disziplin als Tüftler gilt. Der Plan ging auf: In der gesamten vergangenen Saison resultierten aus Leverkusener Standards nur zehn Treffer, jetzt sind es nach nur zwölf Spieltagen schon acht.


Nachdem Nadiem Amiri die Bayern für schlagbar erklärt hatte, sah sich Peter Bosz dann doch noch zu einer relativierenden Aussage berufen: Er werde natürlich noch einmal darauf hinweisen, dass die Bayern eine sehr gute Mannschaft seien, sagte der Trainer. Aber bremsen mochte er seine Spieler dann auch nicht. "Es ist gut, wenn sie Vertrauen und ein gutes Gefühl haben."

Original