Die Welt sieht ihn als "Obi-Wan Kenobi", als "Colonel Nicholson" oder als Großvater des "Kleinen Lords". Er selbst sah sich einfach nur als Schauspieler. Mit dem Ruhm seiner populären Figuren konnte er nie etwas anfangen. Nun wäre Sir Alec Guinness 100 Jahre alt geworden.
"Ich wurde im Chaos geboren und versank darin für Jahre", schrieb Sir Alec Guinness in seiner Autobiografie. Am 2. April 1914 erblickt der Charakterdarsteller, der zu den größten Schauspielern des 20. Jahrhunderts zählt, in London das Licht der Welt. Seine Mutter schleift ihn von Bleibe zu Bleibe durch die Armenviertel Londons. Zeitlebens verschweigt sie ihm die Identität seines Vaters. Der kleine Alec kämpft sich durch den Sumpf aus Armut und Arbeitslosigkeit. Im Alter von 20 Jahren hat er seine erste Rolle am Theater und nur zwei Jahre später ist er schon Mitglied der sagenhaften "Old Vic" (heute Royal National Theatre). Anfang der 1940er-Jahre bricht der Zweite Weltkrieg über Europa herein. Guinness meldet sich zur Marine. Er ist an der Invasion Siziliens beteiligt, soll den Strand als Erster und der Legende nach, aufgrund eines falschen Befehls, sogar zu früh betreten haben. Mit solch einem Timing hätte man am Theater schon verspielt, kritisiert er später die Verantwortlichen.
Nach dem Krieg entdeckt der Theatermime den Film für sich. In "Oliver Twist" (1948), unter der Regie von Sir David Lean, feiert Guinness einen seiner ersten großen Erfolge. Lean und Guinness verbindet über Jahrzehnte hinweg eine private und berufliche Freundschaft. An vielen Klassikern der Filmgeschichte sind beide maßgeblich beteiligt, darunter Meisterwerke wie: "Die Brücke am Kwai" (1957), "Lawrence von Arabien" (1962) und "Doktor Schiwago" (1965).
Für seine Darstellung des Offiziers Nicholson in "Die Brücke am Kwai" erhält der Londoner den Oscar als bester Hauptdarsteller. Alec Guinness hatte sich als feste Größe im internationalen Filmgeschäft etabliert.
Das Chamäleon der Schauspielkunst
Im Laufe seiner Karriere erarbeitet sich der Meister der Verwandlung den Ruf eines schauspielerischen Chamäleons. Er wird zum Mann der tausend Gesichter, angefangen 1949 im Film "Adel verpflichtet", in dem Guinness acht verschiedene Charaktere mimt, über die brillante Schwarze Komödie "Ladykillers" (1955), in der er den Anführer einer Verbrecherbande darstellt, die eine alte Lady um die Ecke bringen will, bis hin zum Kultcharakter des Butlers "Jamesir Bensonmum" in "Eine Leiche zum Dessert" (1976). Liebhaber, Gauner, Komiker, Killer oder König - Sir Alec Guinness verkörpert alle. Er steht mit Grace Kelly vor der Kamera ("Der Schwan", 1956), spielt Kaiser Mark Aurel und Adolf Hitler.
Doch Guinness verstand sich in erster Linie als Schauspieler und nie als großer Filmstar. Mit seiner beherrschten, leicht unterkühlten Art, seine Charaktere zu formen, verlieh er seinen Darbietungen eine erhabene und eindringliche Präsenz. Als ein Meister des minimalistischen Schauspiels konnte er mir einem Blick, mit einer simplen Geste eine ganze Szenerie für sich einnehmen.
Mitte der 1960er wurde die Hollywood-Maschinerie für den Ausnahmeschauspieler Guinness mehr und mehr uninteressant, da man ihm nur noch selten passende Rollenangebote machte. Der stille Mime, der privat sehr zurückgezogen lebte, drohte langsam in die Annalen der Filmgeschichte zu entschwinden, doch ein junger Regisseur aus Modesto/Kalifornien, der an seinem Schreibtisch verschiedene Drehbuchentwürfe kritzelte, hatte andere Pläne mit dem Charakterdarsteller.
Der damals 31-jährige George Lucas war Mitte der 1970er dabei, sein Weltraum-Märchen "Star Wars" zu realisieren. Für die Rolle eines alten kapuzetragenden Krieger-Mönchs mit dem seltsam klingenden Namen Obi-Wan Kenobi hatte Lucas keinen Geringeren als Sir Alec Guinness im Auge.
"Das ist kein Mond, das ist eine Raumstation"
Ende der 1970er schlug "Star Wars" in die Kinos weltweit ein wie eine Bombe. Die Auswirkungen dieses filmischen Urknalls sind bis ins 21. Jahrhundert hinein, in jeder medialen Form, sichtbar. Die Helden des Sternenkrieger-Mythos wurden zu Leinwandlegenden. Luke Skywalker, Han Solo, Prinzessin Leia, Chewbacca, R2-D2, C-3PO und der weise Jedi-Meister Obi-Wan Kenobi wurden Teil der modernen Popkultur.
Über Nacht hatte der zu diesem Zeitpunkt 63-jährige Sir Alec Guinness einen Popularitätsschub und ein filmisches Comeback erhalten, das er sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können. Niemand ging bei den Dreharbeiten zu "Krieg der Sterne" so richtig von einem Erfolg aus. Die Rolle des Tatooine-Eremiten, der sich in einer weit, weit entfernten Galaxis um das Wohl des Farmerjungen Luke Skywalker kümmert, war für den britischen Akteur eine bitter-süße Erfahrung. Einerseits hatte er durch eine zweiprozentige Beteiligung an den überschüssigen Einnahmen von "Star Wars" finanziell ausgesorgt, andererseits fühlte er sich durch die Popularität und den Kult um seine Film-Rolle, und dem damit verbundenen Interesse an seiner Person, extrem in seinem Privatleben gestört.
Aus der Hass-Liebe zu Lucas Sternen-Saga machte der Obi-Wan-Darsteller nie ein Geheimnis. Das mit Spezialeffekten überfrachtete Weltraum-Märchen stand im totalen Kontrast zu Guinness' Standpunkt der Schauspielerei. Dass man ihn für die Darstellung eines Leuchtstock schwingenden Kuttenmönchs mehr feierte als für all seine früheren großen Leistungen zusammen, stieß dem Briten sauer auf. Wie schon bei seiner Oscar-prämierten Darstellung eines englischen Offiziers in "Die Brücke am Kwai" fühlte er sich erneut für eine Performance geehrt, die nicht in die obere Riege seines Schaffens gehörte.
In den "Star Wars"-Sequels "Das Imperium schlägt zurück" und "Die Rückkehr der Jedi-Ritter" nahm er den Part des Jedi-Meisters nur aus Dankbarkeit gegenüber George Lucas an.
In der Erinnerung der Sternenkrieger-Fans wird Sir Alec Guinness dennoch immer untrennbar mit dem "Star Wars"-Mythos verbunden bleiben und mit seiner Darbietung des Obi-Wan Kenobi für die Urform eines aufrechten Jedi-Meisters stehen.
Ein Ex-Geheimagent und ein kleiner Lord
1979 gelingt Guinness mit der Darstellung des George Smiley in einer Fernsehadaption des Spionageromans "Dame, König, As, Spion" erneut eine schauspielerische Glanzleistung, die sogar den Autor des Buches John le Carré in seinen Bann zieht.
Für Carré verschmolz Guinness mit seiner Romanfigur Smiley regelrecht zu einer Einheit. Für den Schriftsteller war es, nach eigener Aussage, danach nicht mehr möglich, dem von ihm kreierten Charakter des Ex-Geheimagenten Smiley neue Facetten hinzuzufügen. Autor und Schauspieler verband über ihre künstlerischen Schneidepunkte hinaus eine enge Freundschaft. Carré sah in Guinness einen formvollendeten und disziplinierten Gentleman, der sich bis ins hohe Alter hinein das Kind im Herzen bewahrt habe.
Ein Jahr später, nachdem US-Schauspieler Dustin Hoffman ihm den Oscar für sein Lebenswerk überreicht hatte, besticht Guinness noch einmal durch seine Interpretation des Earl of Dorincourt in der Verfilmung von "Der kleine Lord".
Der versteinerte Adlige, dessen verbittertes Wesen durch ein kleines Kind Stück für Stück aufgelöst wird, gehört zu den beliebtesten Rollen des Oscar-Preisträgers. Nach dem Theater und der großen Leinwand hatte der Mann der tausend Gesichter im Herbst seines Lebens auch das Fernsehen für sich erobert.
Sir Alec Guinness lebte äußerst zurückgezogen und war 62 Jahre mit seiner Frau Merula verheiratet, die ebenfalls 86-jährig zwei Monate nach ihm starb. Er starb am 5. August 2000 an den Folgen eines Krebsleidens. Heute wäre sein 100. Geburtstag. Möge die Macht mit ihm sein.