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Von Kennedy bis Clinton: Helen Thomas ist die dienstälteste Reporterin im Weißen Haus: Immer das letzte Wort / 27-5-2000

Vielleicht hätte man mit einer anderen Frage beginnen sollen. Vielleicht hätte man ahnen müssen, dass ein Interview mit Helen Thomas eine heikle Angelegenheit werden kann - schließlich wurde die Grande Dame im Pressecorps des Weißen Hauses vor allem durch ihre bohrenden Fragen zur "berühmtesten Reporterin" ("Washington Post") unter all den halbwegs berühmten Korrespondenten im Zentrum der Macht. Als "Foltermeisterin der Präsidenten" hat sie sich selbst mal beschrieben. Nachdem sie Gerald Ford wegen seiner Absicht, Vorgänger Richard Nixon zu amnestieren, mit vielen Fragen genervt hatte, sagte der: "Wenn Gott die Welt noch einmal erschaffen würde, da bin ich mir sicher, könnte er am siebten Tage nicht ruhen, sondern müsste sich gegenüber Helen Thomas rechtfertigen." 


In Kinofilmen wie "The American President" durfte sich die Reporterin der Nachrichtenagentur United Press International (UPI) selbst spielen, und neulich haben ihr Bill Clintons Witzeschreiber eine kleine Rolle in einem satirischen Video über den scheidenden Präsidenten zugedacht. Darin sah man Clinton, wie er getragene Worte zur Weltpolitik vortrug. Dann schwenkte die Kamera in den leeren Pressesaal. Nur die 79-jährige Helen Thomas saß da, schreckte aus dem Schlaf und bellte Clinton an: "Sind Sie immer noch da?"Seit 1961 dabeiNatürlich muss man das als Erstes auch Helen Thomas fragen, schließlich hat sie seit 1961 über acht Präsidenten berichtet. 


"Ich liebe meinen Job. Es gefällt mir, Geschichte zu beschreiben", sagt sie - und blickt den Frager scharf an. "Ist damit irgendetwas nicht in Ordnung?" Schnell wechselt man lieber das Thema, plaudert über die Begegnung des kleinen Bill Clinton mit seinem Vorbild John F. Kennedy. Auf dem berühmten Foto aus dem Rosengarten ist schließlich auch sie deutlich zu erkennen. Als Jackie Kennedy viel Medienaufmerksamkeit auf sich zog, wurde Helen Thomas als eine Art Klatschdame in der Männer-Korrespondentenwelt geduldet. Bei der Geburt von John-John war sie so oft im Krankenhaus, dass Kennedy dachte, sie gehöre zum Personal. Als er sie eines Tages im Weißen Haus traf, sagte er erstaunt: "Sie haben mein Baby im Stich gelassen." 


Als sie als eine der ersten Frauen in die harte Politik eingestiegen war, sagte ihr Kennedy, eigentlich sei sie ja ganz nett - wenn sie nur endlich den Stift beiseite legen würde. Lyndon Johnson lud sie auf seine Ranch nach Texas ein und ließ sie in seiner Limousine chauffieren. Sie solle nur winken und so tun als sei sie seine Frau, sagte er. Nixon nahm kurz vor seinem Rücktritt ihre Hand und bat sie, für ihn zu beten. Mit Jimmy Carter lief sie sonntags durch seinen Heimatort in Georgia. Gerald Ford lud sie sogar zu einer Kaminrunde ins ansonsten für die Presse verbotene Camp David ein.


Alle Präsidenten hätten ihr die unbequemen Fragen schnell vergeben, sobald sie nur im Ruhestand waren. George Bush umarmte sie einige Monate nach seinem Abtritt. Heute waren gerade Henry Kissinger, Ford und einige andere Elder Statesmen im Weißen Haus - Helen Thomas wirkt ehrlich gerührt, als sie darüber spricht. "Sie wissen eben, dass ich keine persönlichen Fehden austrage, dass es mir nur um die Geschichte geht."


Wer ihr nächstes "Folteropfer" sein könnte, dazu will sie nichts sagen - "zu früh". Sie wisse nur, dass "sein Leben fortan ein offenes Buch" sei. "Nichts ist heilig", sagt sie. Wer das nicht akzeptieren wolle, solle den Job nicht machen. Wer Präsident werden will, hat sie mal formuliert, soll sich am besten bereits mit fünf Jahren dafür entscheiden und dann entsprechend leben.


Das lange Reporterleben hat Spuren hinterlassen: Ihr Rücken ist leicht gekrümmt, ihre Finger verharren selbst beim Spaziergang in abgewinkelter Haltung, als würden sie bereits die nächste Eilmeldung tippen. Zusammen mit zwei Agenturkollegen sitzt sie in einem Kabuff, das kaum größer als eine Telefonzelle ist. Ihre alte Schreibmaschine fungiert als Türstopper, die drei Stühle stoßen mit den Lehnen zusammen.


Mit der Selbstverständlichkeit einer Hausherrin führt Helen Thomas durchs Weiße Haus. Vorbei an einem Sicherheitsbeamten, schaut sie bei Clintons Sprecher Joe Lockhart ins Zimmer, scherzt mit seinen Assistenten. Sie erhält Fotos von den Videoaufnahmen mit Clinton. "Oh, wunderbar! Die muss er mir signieren!" Überraschend ist freilich, wie klein alles ist im Weißen Haus: Der Gang, auf dem sich die Journalisten aneinander vorbeizwängen, ist nur ein paar Schritte vom Rosengarten entfernt. Und wenn man auf dem Flur steht und die Tür aufgeht, blickt man schon in Clintons Büro, ins Oval Office. 


Verständlich, dass Helen Thomas sich gewehrt hat, als Hillary Clinton die Reporter 1993 in ein anderes Gebäude verlegen wollte. Ob man denn der Presse den Zugang zum Büro des Sprechers verwehren wollte, schoss sie den damaligen Sprecher George Stephanopoulos in der live übertragenen Pressekonferenz an - und das Thema Umzug war erledigt."Ich muss nicht rausgehen zur Recherche", sagt Helen Thomas. "Ich sehe alles mit meinen eigenen Augen." Den Hinweis, alle wirklich großen Skandale von Watergate bis Monicagate seien nicht von den Korrespondenten im Weißen Haus aufgedeckt worden, die Tatsache, dass Medienkritiker das Pressekorps des Weißen Hauses als "zutiefst korrupte" Institution bezeichneten, quittiert sie mit spöttischem Lachen. "Wer nie die Alltagsarbeit gemacht hat, kann leicht kritisieren." 


Sie nimmt ihre Aufgabe ernst, sagt, die Pressekonferenz sei der einzige Ort, an dem Clinton wirklich regelmäßig Rede und Antwort stehen müsse. "Helen, wie lange werden Sie Ihren Job noch machen? Werden Sie auch mit dem neuen Präsidenten noch auf Reisen gehen?" Ihre Mundwinkel fallen nach unten. "Weiß nicht. Nächste Frage!" Seltsame Reaktion. Schmerzt es sie, dass UPI von ihrer einst herausragenden Position als wichtigste Nachrichtenagentur in die Bedeutungslosigkeit abgestürzt ist? Kaum ein wichtiges Blatt druckt noch UPI, und so kennen Millionen Amerikaner zwar das Gesicht und die hohe Stimme jener Frau, die seit Jahrzehnten in allen Pressekonferenzen stets die erste Frage und das letzte Wort ("Danke, Herr Präsident") hat - ihre Berichte lesen sie jedoch nicht. Vielleicht ist das auch gut so. 


Helen Thomas gilt als eifrige Reporterin. Eine gute Schreiberin, sagen Ex-Kollegen, sei sie nie gewesen. Sie ist eine, die von morgens um halb sechs bis abends um zehn durchs Weiße Haus schleicht und Clintons Sprecher Löcher in den Bauch fragt. Ihre Kollegen hatten es nicht immer leicht mit ihrer pflichtbewussten Chefin: Einer ihrer Kollegen, ein Baseballfan, wagte sie mal zu fragen, ob er nicht von Clintons Air Force One in den zweiten, der Presse vorbehaltenen Begleitflieger, wechseln könne, weil die TV-Übertragungen dort lustiger seien. Workaholic Helen Thomas sagte nur: "Ich will, dass du an Bord bist, falls die Präsidentenmaschine abstürzt." Das klingt zynisch, beschreibt aber doch einen großen Teil der Arbeit der White House Press. Die Reporter sprechen von "Body watch", was heißt: Dabeisein, falls dem Präsidenten etwas zustößt. 


Bei UPI gekündigt


Eine Woche nach dem Besuch bei Helen Thomas kommt die Meldung vom Verkauf ihrer Agentur UPI. Nun wird klar, warum sie so nervös war: Von heute auf morgen schmeißt sie alles hin. Die als liberal geltende UPI-Veteranin konnte sich einfach nicht vorstellen, für die sehr konservativen neuen Besitzer - eine Tochterfirma der Moon-Sekte - zu arbeiten, sagen ihre Kollegen. Die sonst so redselige Journalistin gab nur ein dürres Statement heraus: "Ich habe keine Absicht, für die neue UPI weiterzumachen." 


Im letzten Kapitel ihres Buches "In der ersten Reihe im Weißen Haus" hatte sie noch geschrieben: "Bald wird es einen neuen Präsidenten geben. Ich freue mich schon darauf." Und jetzt also Ruhestand? Sie selbst ist untergetaucht. Doch ihre Bekannten sind sich sicher, dass ihre markante Stimme auch künftig im East Wing zu hören sein wird. Sie habe bereits jede Menge Angebote.

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