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Warum Edelfeder Christoph Scheuring zu "Bild" ging: Lebenslänglich Kisch-Preisträger

HAMBURG, im November Vor einem dreiviertel Jahr also stand der Reporter Christoph Scheuring hier am Konferenztisch im ersten Stock des Hamburger Springer-Hauses und beobachtete Udo Röbel, den Chefredakteur der "Bild"-Zeitung, beim Schlagzeilenmachen. Röbel erreicht jeden Tag zwölf Millionen Leser und ist deshalb "so was Ähnliches wie die wichtigste Stimme unseres Landes". So formulierte es Scheuring dann für die Mai-Ausgabe der Zeitschrift "Max". Röbel allein könnte dafür sorgen, daß 90 Prozent der Deutschen für die Todesstrafe plädierten. Das klingt gefährlich. Weil ihm der 48jährige aber auch sagte, daß Skandalnummern nicht mehr gefragt seien, und weil er nicht wirklich dem konservativen Springer-Klischee entsprach, fand Scheuring ihn doch ziemlich sympathisch. Der beste Beweis dafür ist wohl, daß Scheuring seit drei Wochen nun selbst einen Schreibtisch im Zentrum der Macht bezogen hat. Scheuring zu "Bild" das ist keine gewöhnliche Personalie. Eine ähnlich hochdekorierte Edelfeder gab s noch nie bei Europas auflagenstärkstem Boulevardblatt. Zweimal hat der 40jährige den Egon-Erwin-Kisch-Preis bekommen, die höchste Auszeichnung im deutschen Journalismus. Er war Reporter bei "Tempo", beim "Spiegel" und beim "Stern". Zwölf Jahre lang hat er von "Transatlantik" über das "FAZ-Magazin" bis zu "Geo" für alle namhaften Publikationen geschrieben, und er konnte sich meist aussuchen, worüber er sich auf wie vielen Seiten auslassen wollte; sei es über Jugendliche im Knast oder übers Fliegenfischen. Er kann so formulieren, daß sich Kollegen ernsthaft fragen, ob es sich noch lohnt zu schreiben, weil sie ja doch kaum Ähnliches zustande bringen.Schlagzeilenmachen bei "Bild", so schrieb er, "funktioniert ungefähr wie Bilder aufhängen mit einem Elektrotacker. Und die Kunst dabei war nicht, daß zum Schluß jedes Bild waagerecht hing, sondern daß man sich dabei nicht selbst in die Finger schoß." Warum er unter all den Angeboten, die einem wie ihm gemacht werden, ausgerechnet das von Röbel gewählt hat, das bewegt nun die Branche in Hamburg, Berlin und München. Wer Antworten sucht, begegnet in Zimmer M 326 im dritten Stock des Springer-Hauses einem sensiblen Mann, der seine wuchtigen Bergstiefel auf den Schreibtisch legt und mit gedämpfter Stimme sagt: Es sei im Grunde völlig egal, ob eine Zeitschrift ihn schreiben lasse oder die Praktikantin, denn es achte eh niemand auf die Namen der Autoren. Es sei beispielsweise gar nicht lange her, da habe er für eine dreiwöchige Recherche von der Zeitschrift "Amica" 5 000 Mark verlangt, worauf ihm gesagt wurde, da greife man dann doch lieber auf die Praktikantin zurück. Soviel zum Respekt vor dem Kisch-Preis. Vor fünf Jahren bezeichnete er den "Spiegel" noch als "das beste Nachrichtenmagazin der Welt (...), das unabhängig und unerschütterlich aus dem Mediensumpf ragt". Jetzt sagt er: "Es gibt heute keine moralisch-ethischen Gründe mehr, nicht zu Bild zu gehen. In der Seriosität der Faktenlage und der Genauigkeit der Recherche unterscheidet sich Bild nicht mehr vom Spiegel." Freilich habe auch ihn Röbels Angebot zunächst "völlig überrascht" und er zögerte wochenlang mit seiner Antwort. Irgendwann schlug der passionierte Angler Scheuring eine Serie über "Angeln mit Prominenten" vor. Röbel sagte: Prima, mach mal.Auch wenn aus der Serie bislang noch nichts geworden ist, sei der Wechsel zu "Bild" kein allzu großer Schritt: Es sei ihm immer darum gegangen, Gefühle verständlich zu machen. "Mich interessiert immer das große Gefühl, und das ist Boulevard-Journalismus." Oft genug habe er deshalb für seine Reportagen im "Spiegel" kämpfen müssen.Er spricht von der "Herausforderung, für die "Bild"-Leser zu schreiben", denn bei Springer kenne ihn niemand, und der Kisch-Preis sei hier kaum der Rede wert. Es klingt, als müßte er noch mal von vorne anfangen. Muß er natürlich nicht: Scheuring hat bei "Bild" Freiheiten wie kein anderer. "Wenn er will, kann er sich drei Tage ins Café setzen und kanadische Zeitungen lesen", sagt Röbel. Er habe Scheuring nicht wegen seiner Auszeichnungen geholt, sondern weil er "ein intelligenter Kopf ist, der sich nicht verbiegen läßt". Seitdem sein ehemaliger Chef, Claus Larass, zum Zeitungs-Vorstand aufgestiegen ist, fehlt Röbel der Gegenspieler. Er wolle nun verstärkt kompetente Autoren ins Blatt holen, Leute, die sonst für die "Zeit" oder die "Süddeutsche Zeitung" schreiben. Er sei nun seit Januar im Amt, so Röbel. Vor der Bundestagswahl habe er keine neuen Leute geholt, um keine Unruhe ins Haus zu bringen. Doch nun werde "sich einiges ändern". Im April wird beispielsweise mit Michael Stoessinger ein Mann Chefreporter, der früher im Dossier der "Zeit" war und derzeit Reporter beim "Stern" ist. Scheuring sagt, er werde "nur im allergrößten Ausnahmefall" eine aktuelle Geschichte schreiben. Daß "Bild" kaum mehrseitige Berichte abdruckt, sei ihm klar. "Mein Platz ist in der Serie." Auf die Nachfrage, ob er denn ernsthaft behaupten wolle, zwischen der Faktentreue von "Spiegel" und "Bild" gebe es keinen Unterschied mehr, spricht er über die ökonomische Seite, das verlegerische Geschäft also. Ob Springer oder Gruner+Jahr, im Grunde müsse man sich klar sein, daß alle nur Geld verdienen wollen.Und Scheuring? Der gutdotierte Vertrag, so sagen manche seiner ehemaligen Kollegen, sei der wahre Grund, warum er sich auf dieses Experiment eingelassen habe. Der Vertrag ist allerdings auf ein halbes Jahr begrenzt. Dann sehe man weiter, sagt er. Im übrigen werde er in manchen Journalisten-Kreisen Zeit seines Lebens "der mit den zwei Kisch-Preisen" sein. Mit anderen Worten: Zurück kann er immer.

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