Transfermarkt: Guten Tag, Herr Brehme. Schön, dass Sie Zeit gefunden haben. Vor wenigen Tagen war das 25-jährige Jubiläum Ihres Treffers im WM-Finale von 1990.
Andreas Brehme: Diese 25 Jahre sind im Flug vergangen, man kann kaum glauben, dass das schon wieder so lange her ist. Ich habe letztens mit Rudi Völler telefoniert und wir konnten beide nicht fassen, dass das schon so lange zurück liegt.
Transfermarkt: Es war das Jahr nach dem Mauerfall und nicht wenige behaupten, dass dieser Titel elementar für ein neues deutsches Wir-Gefühl war.
Brehme: Das stimmt. Während der WM haben wir gar nicht groß darüber nachgedacht, weil wir selbst miteinander für das große Turnier beschäftigt waren. Man konnte die Bedeutung des Ganzen erst nach dem WM-Titel wirklich realisieren.
Transfermarkt: Lothar Matthäus wurde erst kürzlich von Transfermarkt zu Ihrem Elfmeter im Finale befragt und zollte höchsten Respekt vor Ihrer Ruhe in der damals hitzigen Situation. Wie haben Sie die Zeit erlebt, bis der Ball dann schließlich im Netz war?
Brehme: Es hat einige Zeit gedauert, bis ich letztlich schießen konnte. Ein großes Problem ist, wie es Lothar ja geschildert hat, wenn man so lange warten muss. Die Argentinier haben laufend diskutiert und auch den Ball weggeschossen, das war für mich das Schlimmste. Man muss abschalten, in sich reingehen und sich nur auf diesen einen Schuss konzentrieren. Auch wenn der argentinische Torhüter Sergio Goycochea ein berüchtigter Elfer-Killer war, habe ich diesen Gedanken gar nicht erst zugelassen.
Transfermarkt: Sie erwähnten vorher, dass Sie während des gesamten Turniers große Unterstützung der italienischen Fans hatten. Lag das nur daran, dass zu dieser Zeit einige deutsche Legionäre in der Serie A aktiv waren der gab es auch andere Gründe?
Brehme: Wir haben fünf Spiele in Mailand ausgetragen und hatten immer ‚Heimspiele'. Es waren aber nicht nur die Italiener, die uns so unterstützt haben, es waren auch jeweils mindestens 50.000 deutsche Fans im Stadion. Es hat einen alleine schon beflügelt, dass man auf dem Weg ins Stadion all die Menschen in weißen Trikots gesehen hat - man bekam richtig Gänsehaut.
Transfermarkt: Was waren für Sie eigentlich damals die ausschlaggebenden Gründe, Deutschland und den FC Bayern in Richtung Italien zu Inter Mailand zu verlassen?
Brehme: Damals war die Serie A die stärkste Liga in Europa, man muss sich nur mal ansehen wer dort alles aktiv war: Diego Maradona, die drei Holländer ( Marco van Basten, Frank Rijkaard & Ruud Gullit, Anm. d. Red.), die Qualität war schon herausragend. Auch der Fakt, dass ich mit Inter so viele Titel gewinnen konnte, zeigt mir, dass ich alles richtig gemacht habe.
Transfermarkt: Würden Sie diesen Schritt in Anbetracht der heutigen Situation nochmal wagen?
Brehme: Da müsste ich lange darüber nachdenken, es hat sich seither einiges verändert. Ich habe eben mit Beppe Bergomi darüber geredet: Als ich damals nach Italien bin, da hatten wir hier (in Deutschland, Anm. d. Red.) keine schönen Stadien, die waren in Italien. Heute ist das andersrum, deswegen würde man Deutschland heute wohl vorziehen. Die Stadien sind ausverkauft, es herrscht tolle Atmosphäre und es wird sehr guter Fußball gespielt. Ich hoffe aber wirklich sehr, dass sich das für die Italiener bald wandelt. Milan, Udinese, Bologna, die Fiorentina und die Roma bekommen wohl neue Stadien, Inter will das San Siro restaurieren. Es wird sicher etwas Zeit brauchen, aber die Italiener werden wieder da hinkommen, wo sie mal waren.
Transfermarkt: Heute sind Sie ja leider verletzt und können nicht auflaufen. Was verbindet Sie außer regelmäßigen Einsätzen für Inter Forever noch mit Klub?
Brehme: Sehr viel. Ich werde zum Beispiel angerufen und nach Spielerempfehlungen gefragt. Das ist immer sehr interessant und ich bin häufig in Mailand. Es macht wirklich Spaß, wie herzlich man dort immer wieder aufgenommen wird. Ich habe bis heute sehr viel mit Inter zu tun.
Transfermarkt: Sie hatten erwähnt, dass Sie hoffen, dass sich der italienische Fußball wieder an der Spitze etablieren kann. Viele Leute sehen bereits die vergangene Saison als Indiz dafür: Juventus konnte das Champions League-Finale erreichen und zwei italienische Klubs waren im Halbfinale der Europa League. Eintagsfliege oder der erste Schritt zurück zu glorreichen Zeiten?
Brehme: Das war auf alle Fälle schon einmal der erste Schritt. Juventus hat souverän das Double geholt, das Pokalfinale habe ich mir in Rom angesehen. Sie haben sehr gut gespielt und trotz der Niederlage von Berlin bin ich der Meinung, dass der italienische Fußball Auftrieb bekommen hat. Gegen ein Team wie Barcelona kann man schon mal verlieren.
Transfermarkt: Sie erwähnten, dass Sie die Bundesliga momentan etwas besser als die Serie A einschätzen. Vergangene Saison spielten mit Xherdan Shaqiri, Lukas Podolski oder Mario Gomez ein paar Ex- Bundesliga-Akteure in Italien, die sich sehr schwer taten. Woran könnte das Ihrer Meinung nach liegen?
Brehme: Ich habe erst vor zwei Monaten mit Roberto Mancini in Mailand geredet. Von Podolski war er sehr angetan, von Shaqiri weniger. Er meinte, dass der Schweizer gut angefangen hat, obwohl er verletzt bei Inter angekommen ist. Den ersten Monat hat er sehr gut gespielt, danach ist er in ein Loch gefallen und konnte sich davon nicht erholen. Wir haben uns (Im Kreis von Inter Forever, Anm. d. Red.) vorher nochmal darüber unterhalten: Als er bei den Bayern für Robben oder Ribéry gekommen ist, dann hat er immer für enormen Druck gesorgt. Das war wichtig für die ganze Mannschaft.
Transfermarkt: Nach Inter hat nun auch Milan einen asiatischen Investor, um sich strukturell und finanziell besser aufzustellen. Ist das ein zukunftsweisendes Modell für die italienischen Mannschaften, um sich wieder an der Spitze zu etablieren?
Brehme: Wenn einem das Wasser bis zum Hals steht, dann macht man manchmal Dinge, die man später bereuen könnte. Aber das halte ich nur für problematisch, wenn man tatsächlich die Mehrheit aus der Hand gibt.
Transfermarkt: Inter bzw. Ex-Klub-Patron Massimo Moratti haben die Mehrheit aus der Hand gegeben. Sie kennen den neuen Inter-Präsident Erick Thohir persönlich. Was macht er auf Sie für einen Eindruck?
Brehme: Er macht einen sehr positiven Eindruck und hat gleich gesagt, dass er bei Inter sehr viel umbauen muss. Das hat er auch gemacht, man muss sich nur mal die Geschäftsstelle ansehen: Viele Leute sind nicht mehr da, er hat viele kompetente Mitarbeiter eingebracht. Trotzdem hat Inter eine sehr schwache Saison hinter sich und wie ich gerade dem italienischen Fernsehen gesagt habe, muss da sportlich kommende Spielzeit deutlich mehr kommen. Die Fans wollen sicher nicht noch ein Jahr auf internationalen Fußball verzichten.
Transfermarkt: Zu Ihrer erfolgreichen Zeit gab es ein deutsches Grundgerüst bei Inter, im Jahre 2010, als man das Triple holen konnte, war der sogenannte Asado-Clan bestehend aus den Argentiniern wie Javier Zanetti, Walter Samuel, Diego Milito oder Esteban Cambiasso da. Fehlt es der aktuellen Mannschaft an Identität?
Brehme: Wenn man das Triple gewinnt, dann hat man grundsätzlich alles richtig gemacht. Sie haben sehr guten Fußball gespielt und im Finale gegen die Bayern leider verdientermaßen mit 2:0 gewonnen.
Transfermarkt: Leider?
Brehme: Ich bin da ganz offen und in erster Linie Deutscher, aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. So habe ich meine Finalkarten meinen Söhnen gegeben, um dem Ganzen aus dem Weg zu gehen. Ich hätte für beide jubeln müssen.
Transfermarkt: Sie erwähnten, dass Sie mit Roberto Mancini direkten Kontakt haben. Mitte der 2000er hat er bereits mit Inter große Erfolge gefeiert und das Grundgerüst der Mannschaft aufgebaut, die das Triple gewinnen konnte. Trauen Sie ihm zu, dass er nochmal so eine Ära einleiten kann oder zumindest das Fundament dafür zu legen?
Brehme: Ich hoffe zwar, dass das klappt, aber ich weiß nicht, ob das auf die Schnelle gehen wird. Es braucht nicht nur Spieler mit Qualität, sondern auch eine gewisse Zeit.
Transfermarkt: Letzte Saison verpasste Inter die internationalen Plätze, Mancini sprach zuletzt in Hinblick auf die neue Saison aber sogar vom Scudetto.
Brehme: Ich würde mich freuen, wenn Inter das schaffen könnte. Allerdings glaube ich, dass Juventus momentan einfach die Nase vorne hat.
Transfermarkt: Juventus hat mit Andrea Pirlo, der in die USA abwandert, nun allerdings einen Eckpfeiler verloren, der mit seinem Spielstil eine ganze Generation geprägt hat. Kann man so einen Spieler überhaupt ersetzen?
Brehme: Ich glaube nicht. Es war aber eine große Geste von Juventus, dass man ihn als „Dankeschön" für die erbrachten Leistungen im Verein so problemlos gehen lassen hat. In so einem Alter war dieser Schritt für mich auch nachvollziehbar.
Transfermarkt: Sie haben parallel, also sowohl in der Serie A, als auch in der deutschen Nationalmannschaft, Erfolg gehabt. Was setzt sich auf Dauer eher durch: italienischer Pragmatismus oder deutscher Kampf?
Brehme: Eine Frage, die schwer zu beantworten ist. Unsere Tugenden werden immer unsere Tugenden bleiben, damit sind wir bisher immer gut gefahren - egal bei welcher Welt- oder Europameisterschaft. Der FC Bayern zelebriert diesen Stil heutzutage und die Italiener haben sich diesbezüglich auch schon umgestellt.
Transfermarkt: Sie würden den Spielstil der Bayern also immer noch, trotz des Einflusses von Pep Guardiola, als „deutsch" bezeichnen?
Brehme: Der FC Bayern spielt ein deutsches System, Pep Guardiola hat aber natürlich seine Handschrift hinterlassen.
Transfermarkt: Viele Fans sehen Pep Guardiola als Grund, warum Bastian Schweinsteiger zu Manchester United und Ex-Coach Louis van Gaal abgewandert ist.
Brehme: Basti ist bald 31 Jahre alt und wenn man noch einmal so ein Angebot kommt, dann kann man das schon mal annehmen. Man weiß, dass er einer der absoluten Lieblinge van Gaals ist und wenn so ein Trainer derart große Stücke auf einen hält, dann ist das schon mal sehr positiv.
Transfermarkt: Die letzte Weltmeisterschaft war für die „Squadra Azzurra" sehr blamabel, jetzt hat Antonio Conte das Zepter übernommen. Ist das der richtige Mann und jemand, der strukturell etwas verändern kann oder sind die Dinge im italienischen Fußball zu festgefahren?
Brehme: Das glaube ich nicht. Conte hat bei Juventus Turin großes bewirkt, deshalb denke ich, dass er auch beim italienischen Verband Reformen umsetzen kann.
Interview: Thomas Hürner