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Nach de Boer-Aus: Inter Mailand zwischen Wunschdenken und Realität | Transfermarkt

Wunschdenken und Realität, Erwartungshaltung und die Leistung auf dem Platz - wohl nirgends in Fußballeuropa klafft hier eine so große Lücke wie bei Inter Mailand. Der Traditionsklub war schon immer für seine sportliche Wankelmütigkeit bekannt, Höhen und Tiefen gehen bereits seit der Gründung im Jahre 1908 Hand in Hand. Dennoch erreicht die Enttäuschung der Fans nach dem schwachen Saisonstart einen lange nicht mehr dagewesenen Tiefpunkt. In der Serie A belegt Inter derzeit den 12. Platz, die Europa League-Saison ist mit der 1:2-Auswärtsschlappe beim FC Southampton so gut wie beendet. Dabei sollte mit dem Einstieg des chinesischen Einzelhandelsriesen Suning, seit Mitte Juni Mehrheitseigner des Klubs, alles besser werden.

Die neuen Eigentümer hatten jedoch von Beginn an mit Problemen zu kämpfen. Nach wochenlangen Spekulationen trennten sich Inter und Trainer Roberto Mancini kurz vor Saisonstart, weil der Italiener nicht einverstanden mit dem teilweisen Einschnitt seines Kompetenzbereichs war. Bis dahin durfte Mancini, ganz nach englischem Vorbild, in einer Teammanager-Rolle viel Einfluss bei etwaigen Zu- oder Abgängen üben. Neben frischen Geldern versprach Zhang Jindong, Schirmherr von Suning, einen Paradigmenwechsel auf dem Transfermarkt. Junge Spieler mit Entwicklungspotenzial sollten von nun an im Fokus der Mailänder stehen. Immer wieder betonte Mancini aber öffentlich, dass er etwas in die Jahre gekommene Spieler wie Yaya Touré, den er bereits bei Manchester City trainierte, präferiere. „Um enge Spiele zu gewinnen, braucht es Spieler mit seiner Gewinner-Mentalität und Erfahrung", sagte Mancini über den Ivorer im Juli.

Als ein weiterer Faktor für die Trennung mit Mancini gilt Kia Joorabchian. Der iranisch-englische Geschäftsmann, der sich einst mit dem Doppeltransfer von Carlos Tévez und Javier Mascherano einen Namen machte, fungiert seit der Übernahme in einer etwas undurchsichtigen Rolle im Hintergrund des Klubs und zieht Fäden im operativen Geschäft. Mancini und Joorabchian kennen sich noch aus Zeiten, in denen der Italiener Tévez bei ManCity trainierte und immer wieder Disziplinlosigkeiten des Argentiniers beklagte. Schon damals soll Joorabchian seine Kontakte spielen lassen und die Strippen für Mancinis Entlassung beim englischen Klub gezogen haben.

Auch beim Nachfolger des italienischen Trainers wirkte der etwas dubiose Geschäftsmann tatkräftig mit, Frank de Boer (Foto) war eine Empfehlung Joorabchians und der Wunschkandidat von Präsident Erick Thohir. Die chinesischen Investoren hatten sich eher einen international bekannten Namen wie Laurent Blanc gewünscht, während Vize-Präsident Javier Zanetti und Sportdirektor Piero Ausilio eine italienische Variante bevorzugt hätten. Ex-Patron Massimo Moratti, der zwar keine offizielle Rolle mehr im Klub hat, öffentlich aber nie um einen Ratschlag verlegen ist, sprach sich für eine Rückkehr des Brasilianers Leonardo aus. Bei Inter kämpfen derzeit verschiedenste Instanzen um Deutungshoheit, interner Konsens bei sportlichen Entscheidungen scheint so gut wie ausgeschlossen.

Das wurde auch Frank de Boer zum Verhängnis. Der Holländer unterschrieb Anfang August zwar einen Dreijahres-Vertrag bei den Lombarden, dieser war aber auch an zahlreiche Klauseln gekoppelt. Bei einem Verpassen der Champions League-Plätze, dem erklärten Saisonziel der Mailänder, wäre es dem Verein möglich gewesen, den Kontrakt aufzulösen. Sollte de Boer noch während der Spielzeit entlassen werden, wie am Dienstagvormittag geschehen, erhält der Holländer die festgeschriebene Summe von 1,3 Millionen Euro, um langwierige Abfindungsverhandlungen wie bei Mancini zu vermeiden. Versicherungen gegen jede Form des Versagens - Vertrauen sieht anders aus.

Inters Wunschkandidat: Der dunkle Schatten Simeones

Obwohl de Boer bei seinem Amtsantritt von einem langfristigen Projekt in Mailand sprach, wurde er vereinsintern eher als Experiment gesehen, das im besten Falle nur eine Übergangslösung ist. Bei Inter träumen sie von einer Rückkehr von Ex-Spieler Diego Simeone, der von 1996 bis 1999 das schwarz-blaue Trikot trug. „Ich gehe davon aus, dass Simeone und Inter sich in Zukunft ernsthaft unterhalten werden. Eines Tages kommt er wieder, diesmal als Trainer", sagte Zanetti in einem Interview mit der argentinischen Zeitung „La Nacion" kurz vor der Trennung von Mancini.

Und auch „El Cholo" selbst gibt immer wieder Liebesbekundungen gegenüber Inter ab, spricht öffentlich über den Wunsch, bei seinem Ex-Verein an der Seitenlinie zu stehen. „Ich stehe oft in Kontakt mit Javier Zanetti, es gibt keinen Grund, das zu verheimlichen. In Zukunft würde ich gerne der Trainer Inter Mailands werden", erklärt Simeone im April diesen Jahres. Dass der 46-Jährige erst im September seinen Vertrag bei Atlético Madrid von 2020 bis 2018 verkürzt hat spielt den Inter-Verantwortlichen umso mehr in die Karten. Die „Gazzetta dello Sport" ist sich sicher: Die Mailänder werden alles daran setzen, Simeone im Sommer 2018 ins San Siro zu lotsen. Bis dahin schwebt ein dunkler Schatten über der Madonnina, der weltbekannten Statue an der Spitze des Mailänder Doms, mit dem jeder Inter-Trainer zu kämpfen haben wird.

Der Nimbus Diego Simeone ist für die Chinesen von Suning allerdings kein Hindernis, viel Geld in die Mannschaft zu investieren. Obwohl der Verein eigentlich den Restriktionen des Financial Fairplay unterworfen ist , verpflichtete Inter für fast 130 Millionen Euro neue Spieler, darunter den frischgebackenen Europameister João Mário (23), den italienischen Nationalspieler Antonio Candreva (29) und die brasilianische Nachwuchshoffnung Gabriel Barbosa (20). Zwar durften die Nerazzurri aufgrund des FFP, das eine ausgeglichene Transferbilanz vorsieht, einige teure Spieler nicht für die Europa League melden. Die italienische Medienlandschaft war sich nach der Transferoffensive der Chinesen aber einig: Frank de Boer hatte den besten Inter-Kader seit José Mourinho, Sieger des legendären Triples 2010, zur Verfügung.

Was der Niederländer in der nur 84 Tage währenden Amtszeit daraus machte, war vor allem ergebnistechnisch viel zu wenig. Er verlor wettbewerbsübergreifend die Hälfte seiner 14 Spiele und zeigte sich bei seiner Spielphilosophie wenig flexibel. Ballbesitzorientierter Fußball sei der Plan, genauso wie eine hoch stehende Abwehrreihe und schnelles Gegenpressing bei Ballverlusten tief in des Gegners Hälfte, erklärte de Boer bei seiner Präsentation. Doch gerade gegen Außenseiter setzte es zahlreiche Pleiten, da sie nur zu gerne Inter den Ball überließen und aus einer tiefen Staffelung heraus über Konter zu Torchancen kamen. Den Inter-Verteidigern mangelt es an Grundschnelligkeit, De Boer hielt aber stur an seinem dominanten „Oranje"-Spielsystem fest.

Die italienische Medienlandschaft, die es als Majestätsbeleidung empfindet, wenn ein Trainer am Geburtsort des Catenaccio die Defensive vernachlässigt, hatte schnell nur mehr Hohn und Spott für de Boer übrig. „Mit einem niederländischen Trainer in Italien zu spielen ist genauso sinnlos, wie wenn man mit einem Veganer eine brasilianische Churrascaria besucht", witzelte etwa „Sky Italia"-Experte Fabio Caressa. Auch der brasilianische Angreifer Éder bekräftigte die Bedenken der italienischen Medien. Nach der 1:2-Heimpleite gegen Atalanta Bergamo sagte er: „Wir sind eine starke Mannschaft, aber keine Einheit. Wir schaffen es meist nicht, die Anweisungen auszuführen, die uns der Trainer gibt."

Éder war es auch, der de Boer in seinem letzten Spiel, einer 1:2-Niederlage gegen Sampdoria Genua, bei seiner Auswechslung den Handschlag verweigerte und mit dieser Aktion die Gerüchte befeuerte, dass der Ex-Profi bereits seit einiger Zeit das Vertrauen der Spieler verloren habe.

Schon zu Beginn setzte de Boer, ganz im Stile Louis van Gaals, auf vollkommene Disziplin und autoritäre Strukturen. Das kam bei vielen extravaganten Einzelkönnern wie etwa Marcelo Brozovic, Goeffrey Kondogbia oder Stevan Jovetic nicht gut an. Sie wurden vom Coach öffentlich kritisiert und danach so gut wie gar nicht mehr eingesetzt, reagierten in der Folge über soziale Netzwerke und die Medien und teilten dort ihre Missgunst mit. Ronald de Boer, Franks Bruder, äußerte sich Mitte der Woche zu Problemen innerhalb des Inter-Kaders: „Er war nicht auf den Fußball ausgelegt, den Frank spielen wollte. Auch wollte er 7-8 Spieler abgeben oder gar nicht erst verpflichten. Zu ihnen gehört auch Gabriel Barbosa."

Zahlreiche Nebengeräusche gehören bei Inter zwar traditionell dazu, sie fanden ihren vorläufigen Höhepunkt allerdings im Konflikt zwischen Kapitän Mauro Icardi und den eigenen Ultras. Der Argentinier ging die Fans in seiner Biographie „Avanti" verbal an, drohte ihnen mit „100 Kriminellen" aus der Heimat. Vorausgegangen waren u.a. Beschimpfungen der Fangruppierungen nach der Niederlage gegen Sassuolo in der vergangenen Saison. Die Ultras fordern seither einen neuen Kapitän und betonen, dass Icardi für sie als Mensch und Spieler gestorben sei.

Es sind vor allem die undurchsichtigen Strukturen im Hause Inter, die ruhiges Arbeiten für wohl jeden Trainer dieser Welt unmöglich machen. Das spiegelt sich auch bei der Suche nach dem Nachfolger de Boers wider, die verschiedenen Instanzen kämpfen innerhalb des Klubs noch immer um Deutungshoheit. Die Chinesen hätten weiterhin gerne einen Trainer von internationalem Renommee. Guus Hiddink scheint ihr Favorit zu sein, nachdem man sich laut der „Gazzetta dello Sport" von Blanc bereits beim ersten Kontakt eine Absage eingefahren hat. Joorabchian arbeitet hinter den Kulissen daran, Ex- Villarreal-Trainer Marcelino bei Inter als Trainer zu installieren, während Zanetti und Ausilio weiter für eine italienische Variante kämpfen, die derzeit Stefano Pioli vorsieht. Präsident Thohir unterstützt Berichten zufolge Joorabchian und Moratti würde gerne seinen Kumpel Leonardo zurückholen. Wunschdenken und Realität - allein der neue Cheftrainer wird im Hause Inter für viele enttäuschte Gesichter sorgen.

Von Thomas Hürner
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