Inter-Kapitän Mauro Icardi veröffentlichte eine Biographie, in der er die eigenen Ultras angeht. Deren Reaktion hat es in sich. Auch, weil sie die Rückendeckung hochrangiger Vereins-Funktionären wie Javier Zanetti genießen. Von Thomas Hürner
Als Mauro Icardi am vergangenen Sonntag ins Giuseppe Meazza-Stadion
einlief, wurde er empfangen, wie noch kein Inter-Kapitän vor ihm. »Du
bist kein Mann, du bist kein Kapitän, du bist nur ein feiges Stück
Dreck«, stand auf einem der Spruchbanner in der Nordkurve, aus der
ebenso Pfiffe und wüste Beleidigungen ertönten. Das Spiel gegen Cagliari
ging mit 1:2 verloren, Icardi verschoss einen Elfmeter. Inter Mailand,
seit Jahren weit entfernt vom Glanz vergangener Tage, hatte sich mal
wieder selbst geschlagen.
Es begann im
Mapei-Stadion von Sassuolo, im Februar 2015. Das seit Jahren kriselnde
Inter hatte gerade wieder eine peinliche 3:1 Pleite einstecken müssen,
als einige Spieler beschließen, die mitgereisten und aufgebrachten Fans
zu beruhigen. Icardi, damals 21 Jahre alt, geht voran und wirft sein
Trikot auf die Tribüne, nach eigenen Angaben zu einem Kind, das darum
gebeten hatte.
Ein Politikum ungeahntes Ausmaßes
Gemeinsam
mit dem Kolumbianer Fredy Guarín sucht er den direkten Austausch mit
den Ultras, doch die Situation eskaliert. Es folgen wüste Beschimpfungen
in Richtung der Spieler, die sich das nicht gefallen lassen und wild
vor dem Fanblock gestikulieren. Das Trikot von Icardi kommt zu ihm
zurückgeflogen, nun ist er auch vom damaligen Kapitän Andrea Ranocchia
kaum mehr zu bändigen und schimpft lauthals in Richtung der Ultras.
Eigentlich
ist all das viel zu lange her, um aus der Sache heute noch ein
Politikum zu machen, das in diesem Ausmaß selbst das ohnehin schon
unruhige Umfeld von Inter Mailand nur alle paar Jahre heimsucht. Und
dennoch scheint es, als würden die italienischen Gazzetten seit Tagen
von nichts anderem mehr berichten.
Hundert Kriminelle aus Argentinien, die sie auf der Stelle töten
Und
trotzdem herrscht noch immer Unklarheit über die Situation damals. Die
Ultras bezichtigen Icardi der Lüge. Das Trikot sei nie bei einem Kind
gelandet, sagen sie. Der Argentinier hatte zuvor behauptet, er habe
gesehen wie ein Erwachsener dem Kind das Trikot aus der Hand riss und es
zurückwarf.
Die Videoaufnahmen von besagtem
Tag geben keinen Aufschluss darüber, was wirklich geschah. Doch die
Niederlage von Sassuolo ist mittlerweile nur mehr eine Randerscheinung
in dieser Geschichte, der eigentliche Auslöser sind die Passagen, die
Icardi in seiner Autobiographie »Sempre Avanti« zu besagter Situation
niedergeschrieben hat.
Er sei, nachdem er den
Ultras die Stirn bot, von den Mannschaftskollegen wie ein Held empfangen
worden und wählte in der Kabine deutliche Worte in Richtung der
aufmüpfigen Anhänger: »Wie viele von ihnen sind es? Fünfzig? Hundert?
Zweihundert? Okay, merkt euch meine Worte und sagt es ihnen weiter. Ich
bringe hundert Kriminelle aus Argentinien, die sie auf der Stelle
töten.«
Morddrohungen gegen die eigenen Ultras, ob ernst gemeint oder nicht,
ziehen gerade in Italien Konsequenzen nach sich. Nur hat es die
Verantwortlichen der Inter-Pressestelle offenbar gar nicht interessiert,
was in der Biographie des 23-Jährigen so drinsteht. Keiner hatte es vor
der Veröffentlichung gegengelesen. Für die Inter-Ultras ein gefundenes
Fressen, um in Zeiten des Wandels auf sich aufmerksam zu machen.
Es
geht um weitaus mehr, als nur um Icardi und die unbedacht gewählten
Worte in seinem Buch. Dieser Meinung zumindest ist Richard Hall,
englischer Inter-Experte, der unter anderem für den Guardian oder ESPN
schreibt: »Die neuen Eigentümer verunsichern viele treue Anhänger. Sie
wollen sich Gehör verschaffen und zeigen, dass sie immer Einfluss auf
den Klub haben werden, egal wer ihn letztlich kontrolliert.«
Vizepräsident Javier Zanetti stellt sich hinter die Fans
Die
Fans seien nach ihrem eigenen Selbstverständnis die einzige Konstante
in der sich so schnell drehenden Fußballwelt, in der Spieler,
Funktionäre und mittlerweile sogar Klubbesitzer alle paar Jahre
wechseln. Das einzige, was sie im Gegenzug fordern, sei Respekt und
Anerkennung für ihre Treue, sagt Hall.
Das ist
auch den Verantwortlichen von Inter bewusst, die sich in der Affäre
demonstrativ hinter die eigenen Anhänger stellten. »Wir werden alles
tun, um unsere Tifosi zu schützen«, sagte etwa der ehemalige Kapitän und
Inter-Legende Javier Zanetti, mittlerweile Vizepräsident des Klubs, vor
der Partie gegen Cagliari.
Im Klub verwurzelte Ultras
Wie schnell das Verhältnis zwischen ausländischen Eigentümern und den
eigenen Ultras zerrüttet ist, wenn offizielle Rückendeckung und
Kommunikation ausbleiben, lässt sich derzeit beim AS Rom beobachten.
Hall
hat bereits hautnah miterlebt, wie eng der Kontakt zwischen
hochrangingen Inter-Ultras und dem Klub ist. Er sprach für eine
Filmproduktion des Guardian mit einigen Anhängern, besuchte auch schon
gemeinsam mit ihnen das Stadion.
So etwa am
letzten Spieltag der vergangenen Saison, ein mageres 1:1 gegen Sampdoria
Genua. »Ein Ultra und ich waren nach dem Spiel vor dem San Siro, als er
mir sagte, dass ich ihm folgen soll«, erzählt Hall und fügt hinzu: »Wir
gingen in das Parkhaus der Spieler, vorbei an Securities und
Polizisten, die ihn offenbar alle kannten und grüßten.« Unten
angekommen, habe der Ultra dann »Il Capitano!« gerufen.
Javier Zanetti, der vor dem Eingang zum Kabinentrakt stand, grüßte den
Fan namentlich zurück und ging auf ihn zu. Es folgte eine lockere
Unterhaltung, wie sie offenbar jede Woche stattfindet. Auch seien sie
nicht die einzigen gewesen, im Kabinengang waren noch weitere führende
Ultras, die einen munteren Plausch mit Spielern und ihren Familien
führten.
»Die Ultras haben vielleicht nicht
mehr ganz den Einfluss wie vor 20 Jahren, sie sind aber immer noch
wichtig«, erzählt Hall abschließend zu dieser Anekdote, die zeigt, warum
der Klub immer wieder den Interessen der Anhängerschaft nachkommt.
Die restlichen Fans stärkten Icardi demonstrativ den Rücken
»Es ist ein Trugschluss, wenn man die Inter-Ultras mit Hooligans gleichsetzt«, bekräftigt Hall. Vielmehr seien sie gut organisiert, es herrschen fast schon Strukturen wie in einem Unternehmen. »Das sind Lehrer, Banker, Anwälte und Geschäftsleute, die wissen, wie man für die eigenen Interessen und die des Klubs einsteht«, erzählt der Journalist. Natürlich gebe es auch Idioten und Rassisten in der Kurve, aber das seien nicht die Leute, die im direkten Austausch mit dem Verein stehen.
Und doch lassen sich die einflussreichen Ultras nicht mit dem Rest der Inter-Fans gleichsetzen, es herrscht ein gewaltiger Kontrast in der Sichtweise der Dinge. Während der Großteils des Stadions Icardi nach dem vergebenen Elfmeter mit Applaus demonstrativ den Rücken stärkte, zogen nach dem Spiel etwa 40 Ultras vor die Wohnung des Argentiniers, wo sie ihm einmal mehr verdeutlichen wollten, dass er für sie als Spieler und Kapitän gestorben ist.
Die Ultras haben bekommen, was sie wollten
Ohnehin hatte der 23-Jährige immer einen schweren Stand bei den Ultras. Er führt das Leben eines Promis und sorgt auch privat immer wieder für Schlagzeilen. So modelt er für den deutschen Modedesinger Philipp Plein und spannte Kumpel Maxi López seine jetzige Ehefrau und Agentin Wanda Nara aus.
»Der Kern der Inter-Anhängerschaft sehnt sich nach einer anderen Persönlichkeit für die Kapitänsbinde«, sagt Hall, der aber glaubt, dass sich die Wogen bald glätten werden: »Wenn Icardi 30 Saisontore macht, dann pfeift sicher keiner mehr.«
Letztendlich haben die Ultras bekommen, was sie wollen. Sie haben sich Gehör verschafft und die Causa Icardi gewonnen. Der Argentinier bleibt entgegen ihrer Forderung zwar Kapitän, muss die die Sassuolo-Episode jedoch aus dem Buch streichen und an seinen Klub 50 000 Euro Strafe zahlen. Auch hat sich der 23-Jährige für die harsche Wortwahl mit einem öffentlichen Brief bei den Ultras entschuldigt.
Original