Die Leipziger Eisenbahnstraße genießt nicht den besten Ruf – zu dreckig, zu viel Kriminalität, zu viele Drogen, heißt es. Gleichzeitig zieht die Magistrale im Osten der Stadt immer mehr junge Leute an, die die Freiräume und günstigen Mieten schätzen. Der Fotograf Sylvio Hoffmann ist im Viertel aufgewachsen, er dokumentiert die Gegensätze seit zehn Jahren.
Von Thomas Fritz
Leipzig. Verlässt man mit der Straßenbahn den Leipziger Hauptbahnhof Richtung Osten, geschieht keine fünf Minuten später links und rechts der Gleise Ungewöhnliches. Shisha-Bars, Lebensmittelhändler mit breiten Gemüseauslagen, Spielcasinos und Döner-Läden reihen sich aneinander, Männer fläzen in Stühlen. Für ein Bundesland mit rund 2,5 Prozent Ausländeranteil ein einzigartiges Straßenbild, auch wenn die Quote (6,1) in der bevölkerungsreichsten Stadt Sachsens etwas höher liegt. Araber, Türken, Kurden, Perser, Afrikaner, Vietnamesen, Koreaner, Russen und Deutsche leben auf der zwei Kilometer langen Magistrale und ihren Seitenarmen, die die Stadtbezirke Neustadt-Neuschönefeld, Volksmarsdorf und Sellerhausen-Stünz verbindet.
Für die einen sind es zwei Kilometer Vielfalt, für die anderen zwei Kilometer Schrecken. Es soll Leipziger geben, die nie an einer vier Straßenbahnhaltestellen aussteigen würden. Schuld daran haben die teils offene Drogenszene, vereinzelte Gewalttaten zwischen verfeindeten Clans, aber auch jener Pro7-Beitrag aus dem Jahr 2013, der die Eisenbahnstraße zur „gefährlichsten Straße Deutschlands“ erklärte. Einzelne lokale Medien reproduzieren das Image bereitwillig. Es bringt viele Klicks im Internet.
Gleichzeitig gibt es hier Wächterhäuser, alternative Hausprojekte, Stadtgärten, Raum zum Ausprobieren und für kreative Entfaltung. Junge Leute ziehen in Scharen zu. Sie sitzen im Sommer barfuß auf der Straße, grillen abends in Hinterhöfen, besuchen die Hippiekneipe um die Ecke oder eine Vernissage in einem der vielen Kunstprojekte. Die Eisenbahnstraße ist im Wandel begriffen – wieder einmal.
Vom Handelszentrum zum Armenhaus
Wenn Sylvio Hoffmann durch sein Viertel führt, darf Zeit keine Rolle spielen. Der 26-Jährige, schwarze Haare, kurzer schwarzer Bart, ist in der Wurzener Straße, die parallel zur Eisenbahnstraße verläuft, aufgewachsen. Hier ein verfallenes Kino, das seine Eltern noch besuchten, dort ein Eckimbiss, der nie in Betrieb ging und von einem ausgeplünderten Auto flankiert wird, da ein stillgelegter Bahndamm, auf dem vor wenigen Jahren S-Bahnen ratterten. Viele Geschichten. Seit zehn Jahren begleitet Hoffmann die „Eisenbahner“, so heißen die Bewohner, mit seiner Kamera. Flaschensammler, die sich ein paar Euro zusammen suchen, Wartende vor der „Tafel“, der Lebensmittelausgabe.
Als er 1988 geboren wird, ist die damals doppelspurige Eisenbahnstraße eine der besseren Adressen. Im 19. Jahrhundert verläuft die Bahnstrecke nach Dresden auf ihrem Verlauf. Später werden die Gleise demontiert, der Handel blüht auf. In der DDR gibt es hier vieles, was woanders schwer zu bekommen ist. Das ändert sich mit dem Mauerfall. Bevölkerungsrückgang, Händlerschwund, steigender Leerstand. Nach und nach ziehen mehr Migranten zu, in der Nähe steht zeitweise ein Asylbewerberheim. Schon in der DDR fanden Vietnamesen und Mosambikaner im Viertel ein Zuhause. Jeder Dritte hatte laut Leipziger Ortsteilkatalog 2014 in Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf einen Migrationshintergrund, von den Kindern und Jugendlichen mehr als 50 Prozent. Die Mieten waren damals günstig, auch heute liegen sie mit knapp fünf Euro Kaltmiete pro Quadratmeter unterm Leipziger Durchschnitt. Die Bevölkerung ist jünger, studentischer und ärmer. Sie bezieht mehr als doppelt so häufig Hartz-4, das Einkommen pro Person beträgt nur rund 850 Euro. Auch wenn es 2013 je 1000 Einwohner tatsächlich mehr Straftaten (183) als im gesamten Stadtgebiet (135) gab, waren das rund 14 Mal weniger als im Zentrum. Trotzdem wurde 2014 eine Außenstelle der Polizei eingerichtet. Im Jahr 2009 installierte Überwachungskameras an der Kreuzung zur Hermann-Liebmann-Straße sollen Drogendealern das Geschäft erschweren.
Einstürzende Häuser und schwarzer Teer
Ob er Angst habe, über die Straße zu gehen? Da muss Robert Baier fast lachen. „Nee“, sagt er, „auch nachts nicht, wenn ich den Laden schließe.“ Der Laden, das ist das Caba-Café, eine Mischung aus Kaffeehaus, Spätverkauf und Büro. Unangenehmes habe er eher mit einem überheblichen Polizisten erlebt, bei einer harmlosen Personenkontrolle. Baier, grüne Hose, marineblaues Polohemd, zog 1996 aus Westdeutschland zurück nach Leipzig. Er arbeitet seitdem auf der Eisenbahnstraße als Immobilien- und Versicherungsmakler und ist Vorsitzender der Händlervereinigung „Lo(c)kmeile“, die das Wirtschaftsleben ankurbeln möchte. Nebenbei betreibt der 46-Jährige sein Café. In der Ecke ein brummender Kühlschrank, auf hellen Ledersofas oder Holzstühlen kann man sich niederlassen. Gegenüber des Eckhauses ist eine Anlaufstelle der Tafel, an der sich Bedürftige mit Lebensmitteln eindecken. Die Armut gehört dazu. Trotzdem sagt Baier: „Die Eisenbahnstraße hat sich positiv entwickelt, nach der Wende konnte es auch nicht mehr schlimmer werden.“ Immer mehr Schandflecke seien verschwunden, der Leerstand bei den Geschäften habe sich verringert. Dutzende Häuser sind immer noch verwaist, einige zugemauert, andere zum Schutz vor abbröckelnden Putzstücken mit Netzen gesichert. Viele sollen Immobilienspekulanten aus Süddeutschland gehören. „Die haben kein Interesse an einer kulturellen Entwicklung des Stadtteils, die denken an ihre Profite und warten einen günstigen Zeitpunkt zum Verkauf ab“, sagt der Kulturmanager Michael Rabisch vom Hausprojekt „Ostblock“. Manche Immobilie übersteht das Warten nicht: Erst im Mai war ein Haus teilweise eingestürzt, die Straße musste tagelang gesperrt werden. Wird saniert, gefällt es auch nicht jedem. Schwarzer Teer klebt auf einer Fassade in der Herrmann-Liebmann-Straße. Unbekannte hatten einen Anschlag verübt – wohl aus Sorge vor Aufwertung und höheren Mieten. Stichwort: Gentrifizierung.
Robert Baier mag die unterschiedlichen Facetten und Menschentypen, aber er fragt auch: „Sind der Oma Kohleofen und Gang zur Außentoilette dauerhaft zumutbar?“ Er wünscht sich ein schöneres Erscheinungsbild. Dass dabei die Mieten steigen werden, hält er für eine natürliche Entwicklung. Ironischerweise tragen die teils reißerischen Medienberichte sogar ein wenig zur Aufwertung bei. So mancher empfindet das Image als hip und lässt sich wie knapp 1200 Neuankömmlinge im Jahr 2013 im Dunstkreis der Eisenbahnstraße nieder. „Es gibt keine bessere Werbung“, sagt Baier. Polizeihauptkommissar Holger Schmid, der auf der Außenstelle Dienst schiebt, kritisiert die Berichterstattung. „Das ist ungerecht, weil diejenigen, die friedlich hier leben, pauschal stigmatisiert werden.“ Die Straße sei kein Kriminalitätsschwerpunkt. Dennoch geben die Konflikte zwischen Arabern und Kurden, die in letzter Zeit sogar Schwerverletzte gefordert haben, nicht die beste Bewerbungsmappe ab. „Einige bringen die Probleme aus ihren Heimatländern mit nach Deutschland. Die Gewaltdynamik, die gelegentlich ausbricht, entsteht aus einer Mischung aus familienclanähnlichen und religiösen Konflikten untereinander“, weiß Schmid. Solche Vorfälle erschweren die Kontaktaufnahme mit ausländischen Anwohnern. Mancher fürchtet, dass das Gespräch um dieses Thema kreist. Sicher ist eines: Die Eisenbahnstraße bietet vielen Ausländern eine Ersatzheimat, weil es hier andere Menschen mit den gleichen kulturellen Wurzeln gibt.
„Wahnsinnig viel Energie“
Auch Kreative tummeln sich vermehrt im verrufenen Osten. „Hier kann man noch etwas machen und es gibt es wahnsinnig viel Energie“, sagt Michael Rabisch, der Kulturmanager. 2013 gründete er mit vier Freunden den Ostblock. Sieben von der Stadt gekaufte Häuser in Parallel- und Querstraßen der Eisenbahnstraße bieten auf 6500 Quadratmeter Fläche vorwiegend Kulturschaffenden Wohnraum und Ateliers, es gibt Fremdenzimmer und eine kleine Bar. „Im Westen“, damit meint der 46-Jährige den teuer gewordenen Ortsteil Plagwitz, „findet man keine erschwinglichen Räume mehr.“ Mehr als vier Euro warm zahlt im Ostblock niemand, geheizt wird mit Kohle. Dafür sorgen die fünf Hausverwalter für Wasser, Stromversorgung und die nötigsten Instandsetzungsarbeiten der unsanierten Häuser. Den Rest übernehmen die Mieter – Modell Ausbauwohnung. Stück für Stück geht es voran, schließlich möchten sie sich der Kunst widmen. Und: einfach leben. Wo sonst geht das so preiswert in Leipzig?
Aus der Tür heraus, fällt der Blick sofort auf jenes teerbefleckte Haus, Herrmann-Liebmann-Straße
85. „Ein schwieriges Thema“, sagt Rabisch nachdenklich, während er sich im
Hinterhof in einem Korbstuhl breit macht, daneben eine alte Badewanne mit
Holzkohleresten im Bauch. „Die Menschen haben Angst, dass im Osten das gleiche
passiert wie im Westen. Ich kann das nachvollziehen.“ Die Sorge geht um, nach
der Südvorstadt, nach Plagwitz, das nächste große Ding zu werden. Seine Vision:
Mehr Menschen müssen sich zusammenschließen und ihre Zukunft selber in die Hand
nehmen, um den Kreislauf aus Gewinnen und Renditen zu durchbrechen. „Besitz ist
für mich ein Mittel zum Zweck“, betont Rabisch.
Nichtsdestotrotz bilden Kreative und Studenten nach gängigen Theorien die erste
Vorhut der Gentrifizierung: Sie tragen dazu bei, wenig reizvolle Viertel
beliebter zu machen und bereiten so den Nährboden für künftige Investitionen.
Ob gewollt oder nicht. Zu jenen Hip-Machern könnte man auch Johann* und Marcus*
zählen. Die beiden 30 Jahre alten Thüringer betrieben mit Freunden seit 2013 ein
angesagtes Lokal, in dem Rock-Konzerte, Partys, Lesungen und Poetry Slams
stattfanden. Überall Elektro- oder Liedermachermusik, das war ihnen zu wenig. Zur
Eröffnungsparty bildete sich eine Traube von 600 Menschen, die Straßenbahn kam
nicht mehr durch. Kürzlich mussten sie dicht machen, unter anderem weil der
Eigentümer die Miete verdreifachen wollte. „Wir waren heiß drauf, ein
nachhaltiges Kulturangebot zu schaffen. Das hat im Kiez gefehlt“, sagt Marcus. Sie
schwärmen vom Charme des Viertels und wollen für den Neustart eine eigene
Immobilie erwerben. Als reine Geschäftemacher möchten sie nicht gelten, es habe
auch Veranstaltungen ohne Eintritt und Getränke für kleines Geld gegeben. Sylvio
Hoffmann, der im Osten groß wurde, sieht die wachsende Partyszene mit
gemischten Gefühlen. Er wünscht sich ein großes
soziales Zentrum nach Vorbild vieler griechischer oder italienischer Städte. „Damit
die Eisenbahnstraße ein Ort für alle wird“, wie er sagt. „Und nicht nur für
einige wenige, um Party zu machen und Spaß zu haben.“
*Namen geändert