Mit seinen vielschichtigen und sprachlich brillanten Romanen begeistert der Ire John Banville seit Jahren ein grosses Publikum. Er outet sich als Bewohner des Elfenbeinturms - mit scharfem Blick auf die Welt.
John Banville, bei "Mrs Osmond", Ihrem unlängst in England erschienenen neuen Roman, handelt es sich um eine Fortsetzung von Henry James' "Bildnis einer Dame". Was würde James davon halten, dass Sie sich seiner Heldin angenommen haben?Er würde mich wahrscheinlich als einen schrecklichen kleinen Emporkömmling betrachten, der es gewagt hat, den zweiten Teil seines Romans zu schreiben. Aber ich hoffe, er würde das Buch dann goutieren. In seinen Notizbüchern spielte er selbst mit dem Gedanken an eine Fortsetzung, aber natürlich hatte er anderes zu tun. Also habe ich die Sache für ihn erledigt.
Für Ihren Roman "Unendlichkeiten" hatten Sie sich bei Heinrich von Kleist bedient, für den unter dem Pseudonym Benjamin Black veröffentlichten Krimi "Die Blonde mit den schwarzen Augen" bei Raymond Chandler. Sind Sie ein ähnliches "Wunderkind der hohen Diebeskunst" wie Oliver Orme, der kleptomanische Maler, von dem Ihr Roman "Die blaue Gitarre" handelt?Unerfahrene Künstler borgen, erfahrene Künstler stehlen. Dieser Satz ist ebenfalls nicht von mir, sondern von T. S. Eliot. Tatsächlich habe ich in dieser Hinsicht seit Beginn meiner Karriere als Schriftsteller gestohlen, und ich hoffe, dass andere Leute auch von mir stehlen. Ich habe sogar schon mich selbst bestohlen und beispielsweise am Ende von "Unendlichkeiten" eine Passage aus einem meiner früheren Romane verwendet. Als Künstler gehören wir einer Gilde an, in der jeder die Dinge an andere weitergibt. Das Kunstwerk mag ein poliertes, vollendetes Objekt sein, aber seine Herstellung ist so chaotisch und konfus wie das Leben selbst.
Ist das Leben der Kunst am Ende nicht immer überlegen?Ist es Huysmans, der in "Gegen den Strich" sagt, dass man das Leben getrost der Dienerschaft überlassen könne? Nun, ich überlasse das Schreiben von Romanen meinem Alter Ego Benjamin Black. Als Banville versuche ich etwas anderes. Natürlich dreht sich alles immer ums Leben, um die ganz profanen Dinge. Aber ich bemühe mich dennoch um jene Konzentration und Intensität, die wir für gewöhnlich als Poesie bezeichnen. Diese Poesie wird immer wieder vom Alltäglichen unterlaufen, vom Leben, das uns ständig gemahnt, dass wir nicht nur aus Geist bestehen, sondern aus einem Körper, der ebenso wichtig ist wie der Intellekt oder unsere sogenannte Seele.
Kehren wir die Perspektive um: Wo steht die Kunst über dem Leben?Wenn die Kunst etwas Erhabenes hat, dann deshalb, weil sie uns daran erinnert, was es heisst, lebendig zu sein. Das ist es, was ich am Roman liebe, obwohl es mir noch lieber wäre, wenn ein Roman das Selbst auf ähnliche Weise verstummen liesse wie das beim Betrachten eines Gemäldes oder beim Hören von Musik der Fall ist. Weil es sich beim Roman aber um eine so chaotische und lärmende Angelegenheit handelt und man als Leser ständig mit dem Buch im Dialog ist, ihm zustimmt oder widerspricht, fühlt man sich so aussergewöhnlich lebendig. Es ist sehr schade, dass der Roman seinen Einfluss verliert, weil wir heutzutage einer Fülle von Informationen ausgesetzt sind, die uns ständig ins Gesicht gestossen werden, ohne von uns die kleinste Reaktion zu verlangen.
Das in Ihrem Werk verhandelte Problem der Authentizität haben Sie bereits Mitte der Neunziger als Kern der existenziellen Zwangslage bezeichnet, in der sich der Mensch befinde. Wie beurteilen Sie es heute?"Eines der Probleme unserer Zeit ist, dass die Demokratie wirklich in der Gesellschaft angekommen ist, dass heute jeder eine Stimme hat."
Aber das Informationszeitalter hat dem Begriff des Authentischen auch zu neuer Konjunktur verholfen.Wir durchleben derzeit eine Übergangsphase, die in gewisser Weise den 1890er oder 1920er Jahren ähnelt, als die Frage der Authentizität irrelevant schien. Vergnügen und die Pose, die man gegenüber der Welt einnimmt, sind heute von grösserer Bedeutung als der authentische Augenblick des Selbst, das mit sich allein ist. Der existenzielle Augenblick. Es ist bedauerlich, dass der Existenzialismus in den sechziger Jahren zum Witz erklärt wurde, zur Kaffeehaus-Philosophie, und man seitdem nur noch dieses schreckliche Bild von Sartre und de Beauvoir vor Augen hat, die sich im Café de Flore selbst inszenieren.
Diese Meinung ist nicht nur elitär, sondern auch politisch äusserst unkorrekt.Eines der Probleme unserer Zeit ist, dass die Demokratie wirklich in der Gesellschaft angekommen ist, dass heute jeder eine Stimme hat. Das erinnert mich an Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch", wo es über den Kellerlochmenschen heisst, dass er wohl fähig ist, "vierzig Jahre lang stumm in seinem Kellerloch auszuharren, kommt er aber ans Licht, dann geht es mit ihm durch, dann redet er, redet, redet, redet . . .". Und so weit sind wir heute: Jeder glaubt, eine Meinung zu haben, die die Welt unbedingt hören müsse.
Niemand verlangt von einem Sportler, in einem Wettkampf Zweiter, Dritter oder gar Letzter zu werden. Niemand verlangt von einem Wissenschafter, zweitklassige Arbeit abzuliefern. Weshalb soll ein Intellektueller oder Künstler zweitklassige Arbeit abliefern, nur damit er von jedermann verstanden wird? Aus irgendeinem Grund sind wir es, die von unserem Elfenbeinturm herabsteigen sollen. Aber ich versichere Ihnen: Der Ausblick, den ich vom Elfenbeinturm aus habe, ist hervorragend. Ich kann von hier oben sehr weit sehen. Ich kann in die Ferne schauen, aber ich kann auch herabschauen und sehen, was unter mir passiert. Es gibt am Elfenbeinturm nichts auszusetzen. Ich bin ein Befürworter des Elitedenkens.
Dann beschreiben Sie bitte die Welt, die Sie vom Elfenbeinturm aus sehen. Sein Ziel sei "die Einverleibung der Welt ins Selbst", sagt Orme in "Die blaue Gitarre". Bedenkt man, dass Sie in Ihren Romanen meist aus der Perspektive eines Ich-Erzählers schreiben und daneben auch noch Memoiren und Zeitungsartikel verfassen, hat man den Eindruck, auch Ihr Werk sei Ausdruck einer unstillbaren, gargantuesken Gier.Meine Ansichten haben keinen grösseren Wert als die eines Klempners oder Hirnchirurgen, aber ich glaube, wir befinden uns derzeit in einer äusserst gefährlichen Situation. Ich bin noch nicht so alt, dass ich behaupten könnte, die 1930er Jahre selbst miterlebt zu haben, aber was derzeit geschieht, erinnert mich dennoch an eine Zeit, in der die liberale Demokratie ihre Nerven verloren hatte. Zumindest, was Europa betrifft. Das europäische Ideal hat einen schrecklichen Schlag erlitten, als sich die verdammten, dummen Briten entschlossen haben, dieses grossartige Projekt eines vereinten Europas aufzugeben. Aber hören wir lieber auf, darüber zu reden. Fragen Sie mich etwas anderes.
Ich glaube, ich habe immer geschrieben, weil ich die Welt, in die ich hineingeboren wurde, nicht begreifen konnte. Es schien mir immer, als wäre ich aus reinem Zufall irgendwo abgeworfen worden, und ich versuche seit meiner Kindheit, den Sinn davon zu ergründen. Das Schreiben ist der Weg, den ich dafür gefunden habe. Es geht nicht darum, etwas auszudrücken, ich glaube nicht, dass ich in meinen Büchern auch nur das Geringste zum Ausdruck bringe. Es geht lediglich darum, sich die Welt einzuverleiben, sie neu zu deuten. Die Welt in Worten wieder zu erbrechen.
"Was für eine Welt, lieber Gott, was für eine Welt", so Orme, "und mittendrin ich, brüllender alter Esel, der ich bin."John Banville, 1945 in Wexford geboren, ist seit Jahrzehnten eine prägende Persönlichkeit im irischen Literaturleben. Sein Œuvre umfasst mittlerweile 17 Romane, eine Erzählsammlung, unter Pseudonym verfasste Kriminalromane sowie Essays und Drehbücher; als profilierter Kritiker wurde er 1988 an die "Irish Times" berufen, wo er elf Jahre lang den Literaturteil gestaltete. Für seine raffinierten Erzählkonstruktionen wird der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller ebenso geschätzt wie für seine sinnliche, präzise und differenzierte Prosa. Als jüngstes Werk erschien auf Deutsch "Die blaue Gitarre" in der Übersetzung von Christa Schuenke.
Ich habe nie den kindlichen Sinn des Erstaunens verloren, meine Verwunderung darüber, an diesem seltsamen Ort zu sein. Vielleicht ist es das, was einen Künstler ausmacht: Nicht der Wunsch, etwas auszudrücken oder zu repräsentieren, sondern die Sehnsucht, einen festen Platz zu finden, auf dem man seinen Fuss absetzen kann. Schenkt mir das Schreiben diesen Halt? Nein, weil mir jedes neue Buch nur wie ein weiterer Misserfolg erscheint. Es ist, als würde ich einen Fluss überqueren und auf einen Trittstein treten, der unter meinem Fuss nachgibt. Ich muss also sofort auf den nächsten Trittstein springen, um nicht zu versinken. Je älter ich werde, desto weniger weiss ich über das Leben, über diese Welt.
Ja, aber die Person, die Ihnen gegenübersitzt, ist nicht die Person, die die Bücher schreibt. Ich weiss nichts über dieses seltsame andere Wesen, das zu existieren aufhört, sobald es sich von der Arbeit an einem Buch erhebt. Es hat eine vollkommen andere Sensibilität als der Bürger, mit dem Sie sprechen. Als Bürger liegt mir zum Beispiel die Europäische Union am Herzen, aber als Künstler interessiert mich nichts als die Arbeit, die ich tue. Ich verwende mitunter sogar Wörter, die ich eigentlich gar nicht kenne und später im Wörterbuch nachschlagen muss.
In "Mrs Osmond" beschreiben Sie, wie Isabel einen weinenden, offenbar hoffnungslos verlorenen Mann beobachtet, auf dem das ganze Leid der Welt zu lasten scheint. Können Sie dieses Leid spüren?"Wenn wir die ganze Agonie spüren könnten, die derzeit in der Welt herrscht, würde uns das auf der Stelle umbringen."
Mir fehlt Ihre Vorstellungskraft.Oh ja, aber Sie können das ebenfalls.
Die haben Sie durchaus. Lassen Sie uns dies klarstellen: Ich habe keine grössere Vorstellungskraft als Sie oder andere Menschen. Ich habe lediglich mein Leben damit verbracht, sie auf eine bestimmte Weise zu verwenden. Künstler sind keine besonderen Menschen, wir sind keine Priester, keine Schamanen, keine Götter. Wir sitzen lediglich in unseren Zimmern und verbringen die Zeit damit, uns vorzustellen, was es heisst, lebendig zu sein. Was es heisst, zu leiden oder glücklich zu sein, jemanden zu lieben. Das ist der einzige Unterschied, und dabei handelt es sich in Wahrheit nicht einmal um einen Unterschied.
Dennoch können Sie von Ihrem Elfenbeinturm aus weiter blicken als ich. Wie können Sie das Leid, das Sie sehen, ertragen?"Ich selbst habe mich immer als komische Figur gesehen, als ganz und gar lächerliche Figur."
Wen sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel blicken?Ich empfinde es nicht selten als vollkommen unerträglich. Aber ich glaube, wir Menschen können nur überleben, indem wir nicht fühlen. Wenn Sie und ich in diesem Moment die ganze Agonie spüren könnten, die derzeit in der Welt herrscht, würde uns das auf der Stelle umbringen. Ich werde also nach unserem Gespräch nach Hause fahren, mit meiner Familie zu Abend essen, ein Glas Wein trinken und so tun, als würde ich noch zwei Seiten lesen, bevor ich mir dann wie jedermann irgendwelchen Müll im Fernsehen anschaue.
Mir erscheinen die Menschen wie Automaten, die auf der Erde herumspazieren, aber in jedem von ihnen versteckt sich dieses kleine, ängstliche Wesen, das in die Welt hinausblickt und sagt: "Okay, du läufst drauflos, aber verrate mich nicht. Ich will hier drinnen bleiben." Das trifft auf uns alle zu. Wir gehen auf eine Party oder präsentieren uns in einem Interview, aber tief drin versteckt sich dieses winzige Wesen, das fleht: "Bitte! Bitte!" Ich kenne Schriftsteller, die mit sich selbst vollkommen zufrieden sind, mitten in der Welt stehen und eine gute Figur abgeben. Aber ich selbst habe mich immer als komische Figur gesehen, als ganz und gar lächerliche Figur. In meinen besten Momenten bin ich wie Buster Keaton, weil es mir immerhin gelingt, keine Miene zu verziehen. Aber in Wahrheit sehe ich mich als ängstlicher kleiner Homunkulus, der in die Welt hinausstarrt.