Über tausend Seiten lang ist Garth Risk Hallbergs Roman "City on Fire". Er glaubte, das Projekt sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Thomas David erfuhr, warum er trotzdem bei der Stange blieb.
Mr. Hallberg, New-York-Romane haben in der amerikanischen Literatur nach wie vor Konjunktur. Worin liegt für einen Schriftsteller der Reiz, sich mit einem Roman in die Geschichte dieser Stadt einzuschreiben?
Dafür wird es ebenso vielfältige Gründe geben wie unterschiedliche Romane, aber in meinem Fall hatte es zu einem grossen Teil damit zu tun, dass ich im Süden der USA aufgewachsen bin - in gewisser Hinsicht also so weit von New York entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann. Der Rhythmus des Lebens, die Arbeit der Menschen, ihre Art zu denken wurden nicht nur von den umliegenden Feldern bestimmt, sondern auch noch vom Gespenst Jim Crows: Die Rassentrennung war erst 1964, vierzehn Jahre vor meiner Geburt, offiziell aufgehoben worden. Ich war als Kind sehr verträumt und habe viel gelesen, und die Phantasiewelten der Bücher, in denen ich lebte, hiessen nicht nur Mittelerde und Narnia, sondern schliesslich auch New York. Es war eine faszinierende Vorstellung, dass es einen realen Ort auf der Landkarte gab, wo nicht minder viele Abenteuer passierten, wo ebenso viele merkwürdige und interessante Menschen lebten wie in den imaginären Welten von Tolkien und C. S. Lewis.
"City on Fire" spielt im Jahr 1977. Wollten Sie sich New York als imaginären Ort bewahren, statt wie beispielsweise Teju Cole in "Open City" oder Ben Lerner in "22:04" die gegenwärtige Befindlichkeit der Stadt zu erkunden?
In meinen Augen ist "City on Fire" überaus gegenwärtig, und ich hatte von Anfang an nicht die Absicht, einen historischen Roman zu schreiben. Vielmehr glaube ich, dass ich im Rückblick auf das Jahr 1977 einen lebendigen und starken Augenblick aus der Geschichte der Stadt herauslesen konnte, der es mir ermöglichte, all das auszudrücken, was mich in den Jahren 2001 bis 2003, als ich die ersten Überlegungen unternahm, und schliesslich ab 2007, als ich den Roman schrieb, brennend beschäftigte. Indem ich diese aktuellen Fragen in eine andere Zeit projizierte, konnte ich vergessen, was ich zu wissen glaubte, und sah sie gewissermassen mit anderen Augen neu. Der russische Kritiker Wiktor Schklowski hat diesen Prozess der Verfremdung am Werk Tolstois beschrieben, der die vertrauten, im Alltag kaum noch wahrgenommenen Dinge so darzustellen vermochte, dass man sie wie zum ersten Mal betrachten konnte. Meines Erachtens ist diese Art von Verfremdung etwas, was alle künstlerischen Praktiken auszeichnet.
Welche Gegenwartsbezüge haben Sie in der Vergangenheit des Jahres 1977 entdeckt?
Terrorismus, Wirtschaftskrise, etwas, was ich als Krise der Politik des Möglichen bezeichnen würde, die sozialen Spannungen, die sich für Menschen aus einem schnellen Wandel des städtischen Umfelds ergeben: Viele Probleme, die uns heute beschäftigen, waren auf ähnlich drängende Weise auch damals sehr präsent. Ängste und Spannungen der Siebziger wurden dann längere Zeit von dem schönen Traum des Jahres 1989 verdrängt, bis sie zu Beginn des letzten Jahrzehnts abermals über uns hereinbrachen. Vor allem die sechziger, aber auch noch die siebziger Jahre waren eine Zeit, in der sich die Menschen noch eine Zukunft vorstellen konnten, die vollkommen anders aussah als unsere Gegenwart, während meine Generation in den achtziger und neunziger Jahren mit dem Gefühl aufwuchs, am "Ende der Geschichte" angelangt zu sein. Ich erinnere mich sogar noch an den gleichlautenden Titel eines Buchs.
Sie meinen Francis Fukuyamas "Das Ende der Geschichte".
Ein sehr amerikanischer Gedanke - zu glauben, die Geschichte sei für uns erledigt, alle Menschheitsprobleme gelöst und unser Weg in die Zukunft halte keine Störungen mehr bereit. Der 11. September 2001 hat alle Amerikaner, die diesem naiven Glauben anhingen, eines Besseren belehrt, und die Störung konfrontierte uns mit einer Realität, die einen Tag zuvor noch pure Fiktion gewesen wäre. Mit meinem Roman bin ich in die vielleicht letzte Phase der amerikanischen Geschichte zurückgekehrt, in der sich die Menschen noch vorstellen konnten, dass die Zukunft radikale Änderungen mit sich bringen könnte.
Mit seinen im amerikanischen Original mehr als 900 Seiten scheint Ihr Roman auch Widerstand gegen die Veränderungen des Leseverhaltens und das drohende Ende der Geschichte des Buches zu leisten, das nach der Jahrtausendwende wiederholt heraufbeschworen wurde.
Das Konzept meines Romans, zu dem auch die Länge gehörte, liess mich von Anfang an daran zweifeln, dass er je veröffentlicht werden würde - insbesondere in einem kulturellen Umfeld, in dem ab Mitte des letzten Jahrzehnts verstärkt Buchhandlungen bankrottgingen, das Internet seinen Siegeszug fortsetzte und sich die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen verkürzte. Als 2007 die Weltökonomie ins Straucheln geriet, hatte ich sogar Angst, dass es das physische Buch vielleicht schon gar nicht mehr geben würde, wenn ich den Roman fertiggestellt hätte. Es hatte etwas sehr Erregendes, über Jahre an etwas zu arbeiten, von dem ich glaubte, es sei von vornherein zum Scheitern verurteilt, furchteinflössend und vollkommen unmöglich. Andererseits war es aber vielleicht gerade dieses Gefühl, das es mir ermöglichte, den Roman genau so zu schreiben, wie ich wollte, ohne irgendwelche literarischen Moden oder Trends zu berücksichtigen.
Manche Kritiker fühlten sich durch "City on Fire" an Dickens erinnert. Ist das ein Kompliment, oder heisst es vielmehr, Sie haben einen altmodischen Roman geschrieben, der auch die Moden der Moderne ignoriert?
Ich liebe Dickens und würde seinen Einfluss ebenso wie den von George Eliot, Thackeray, Dostojewski und Tolstoi nie verleugnen. Mit "City on Fire" komme ich diesen fünf Schriftstellern so nah, wie es mir je möglich sein wird, und es würde mich freuen, wenn es mir gelungen wäre, ihnen mit meinem Roman Reverenz zu erweisen. Aber ich habe die Literatur des 19. Jahrhunderts erst spät für mich entdeckt und war zuerst ein Leser von Thomas Mann, Virginia Woolf und James Joyce. In meinen Zwanzigern hat mich DeLillos "Unterwelt" stark beeindruckt, und während der Arbeit an der ersten Fassung von "City on Fire" war Roberto Bolaños "2666" eine grosse Inspiration. Was mich an Bolaño begeisterte, waren die Fülle der Figuren, eine Romanarchitektur, die vollkommen auf der Höhe der Zeit zu sein schien, und eine komplexe Story. Eine starke Romanhandlung ist in den Augen mancher Leser vielleicht das Altmodischste überhaupt, aber in einer Zeit der zunehmenden Fragmentierung des Lebens hat es durchaus etwas Radikales, eine Handlung zu erfinden, die in der Lage ist, die unterschiedlichsten Figuren einzubinden und zusammenzuführen.
"Du bist, was du wahrnimmst": Ein Satz aus "City on Fire", der auf die grosse Anschaulichkeit zu verweisen scheint, mit der Sie die imaginäre Gegenwart des New York des Jahres 1977 beschreiben. Wie erleben Sie die reale Gegenwart des Wahljahres 2016?
Es ist fast unnötig, diese Frage zu beantworten, weil jeder diese Gegenwart täglich in den Nachrichten mitverfolgen kann. Wenn man aber alles, was einen verblüfft oder um den Verstand bringt, einmal ausser acht lässt, bleibt immer noch der Gedanke, der mir an dem amerikanischen Projekt sehr gefällt und der im Grunde von dem gleichen synthetisierenden Impuls ausgeht, den ich bezüglich der Handlung meines Romans beschrieben habe. Amerika ist eine Erzählung, in der die unterschiedlichsten, teilweise auf unerträgliche Weise idiosynkratischen Leute Platz haben und die dennoch als Ganzes funktioniert. Es wäre sehr tragisch für Amerika, wenn die Menschen das Besondere der amerikanischen Idee für selbstverständlich hielten und aus den Augen verlören und sich vor der Offenheit, die die Geschichte des Landes ausmacht, verschlössen. Es dürfte kaum einen ernstzunehmenden Schriftsteller geben, der die Diversität und Exzentrizität zugunsten einer Homogenität aufgäbe.
George Packer hat im "New Yorker" unlängst "die Aszendenz der Rechten" als "die grösste Story der letzten fünfzig Jahre in der amerikanischen Politik" bezeichnet.
Packer ist ein grossartiger Autor, aber seine Stärke ist eher die Reportage, nicht die Analyse. Ich würde nicht ausschliessen, dass es sich bei seinem Artikel um eine journalistische Zweckmässigkeit handelte, zumal die "grösste Story der letzten fünfzig Jahre" kurz vor Obamas Amtsantritt noch eine ganz andere war. An diesem Beispiel kann man sehen, wie schwierig es ist, die Gegenwart zu durchdringen, und wenn ich einen Roman schriebe, der im heutigen New York spielte, wäre ich wie der Fisch, der das Wasser zu beschreiben versucht, in dem er schwimmt. Es schien mir sinnvoller, in eine andere Zeit zurückzugehen, um nach Antworten auf die Frage zu suchen, wie man weiterlebt, wenn sich der utopische Traum, an den man geglaubt hatte, in Luft aufgelöst hat. Mein Roman spielt gewissermassen in der Katerstimmung einer solchen Zeit - in der abgefahrenen, chaotischen und kreativen Katerstimmung, die auf die Sechziger folgte.
Welche Bedeutung messen Sie der Kunst in einer solchen Zeit bei?
Die Punk-Rock-Szene, in der mein Roman zum Teil spielt, bestand damals aus geschätzt 150 Leuten, sie war also ziemlich klein und nicht das grosse kulturelle Phänomen, das wir rückblickend in ihr sehen. Jeder kannte jeden, und das war im Grunde auch das Einzige, was die Szene zusammenhielt, denn in anderer Hinsicht war sie so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Und dennoch hat sich aus diesem Mikrokosmos alles Mögliche entwickelt, was noch heute untrennbar in die Textur unseres Lebens eingewoben ist und in dem noch immer ein Funke Widerstand glüht. Wir können nicht erwarten, dass die Kunst ein Licht ist, das uns vor der Dunkelheit bewahrt, und wenn es Aufgabe der Kunst wäre, die Mächte der Finsternis zu bekämpfen, hätte sie keine Zeit für andere Dinge - zum Beispiel dafür, schön zu sein. Aber die Kunst kann die Flamme bewahren, bis sie wieder gebraucht wird.
Garth Risk Hallberg liest am 22. März um 20 Uhr im Kaufleuten Zürich.
ThD. ⋅ Ein junger Punk und dessen afroamerikanischer Freund. Die verzweigte, zum New Yorker Geldadel gehörende Familie des Punks, die verlorenen Kids aus der Vorstadt. Der Reporter eines Magazins und ein österreichischer Galerist. Der Polizist, der den Freund des Punks verhört, nachdem er irgendwann nach Mitternacht, in der Frühe des Neujahrstags 1977, im Central Park ein angeschossenes Mädchen gefunden hat. In "City on Fire" lässt Garth Risk Hallberg ein ganzes Ensemble von Figuren antreten und schleust sie nicht nur durch eine spannende, Elemente des Familien-, Bildungs- und Kriminalromans aufgreifende Handlung, sondern durch die Häuser und Strassen der Stadt, welche im Buch die eigentliche Hauptrolle spielt. "City on Fire" ist ein Roman der Bilder, Klänge und Atmosphären. Eine in Erzählung verwandelte Phänomenologie der Wahrnehmung, die im Sound der bankrotten Metropole vibriert und in die fulminante Darstellung des legendären Stromausfalls vom 13. Juli 1977 mündet. Es ist der Tag, an dem New York seine Walpurgisnacht erlebt und das Leben von Hallbergs Figuren sich verwandelt.
Garth Risk Hallberg: City on Fire. Aus dem Amerikanischen von Tobias Schnettler. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 1080 S., Fr. 38.90.