WM-Boykott? Was bitte soll das denn jetzt noch heissen? Die WM findet ja statt! Ich weiss aber, worauf Sie hinauswollen. Im Idealfall setzt man als Konsument der Spiele ein Signal. Wenn der Zuschauerzuspruch kleiner ist als erwartet, wäre das ein Signal in Richtung TV-Stationen und Sponsoren für künftige sportliche Grossereignisse. In der Tat wäre es ein wichtiges Votum der Gesellschaft zu sagen: "Mit uns nicht, denn es werden rote Linien überschritten!"
Man sollte bei den Diskussionen aufpassen, dass sie nicht von den eigentlichen Fragen ablenken. Die Verantwortung dieser in allen Bereichen menschenverachtenden Veranstaltung liegt nicht primär bei Yann Sommer oder einer Fan-Truppe aus Grindelwald. Die Verantwortungsträger sind die internationalen und nationalen Verbände sowie auch die Politik. Diese Akteure sollten wir nicht vom Haken lassen.
Sie haben sich nie ernsthaft über einen Boykott der Veranstaltung und die Organisation eines alternativen Turniers beraten. Stattdessen haben sie sich systematisch hinter der Rhetorik versteckt, die WM würde in Katar Demokratisierungsprozesse lostreten, was schlicht nicht zu erwarten ist.
Ja, die aktuelle Kritik an der WM in Katar ist scheinheilig, weil sie schlicht zu spät kommt. Jetzt diskutieren wir über Zuschauer-Boykotte. Mündige Bürger sollten verantwortungsvoll und nachhaltig konsumieren und deshalb auf den Konsum der WM verzichten. Das ist zwar nicht nichts - aber eben auch nicht viel und vor allem nicht das Richtige, weil so Verantwortungsfragen nach unten verschoben werden. Die Organisatoren der Veranstaltung werden damit schleichend aus der Verantwortung genommen. Wir bekommen genau die WM, die wir verdienen.
Die WM in Katar veranschaulicht die Strategie eines autoritären Regimes zur Herstellung von innen- und aussenpolitischer Legitimation. Wer dabei auf Demokratisierungsprozesse hofft, dürfte enttäuscht werden. Vergangene Weltmeisterschaften in autoritären Staaten wie Chile 1962, Argentinien 1978 oder Russland 2018 haben das gezeigt. Das Gegenteil wird der Fall sein: Das Regime dürfte durch die Veranstaltung gar noch stabilisiert werden. Was hätte die Fifa anders machen können, als die WM bereits nach Katar vergeben worden war?
Man hätte genauer hinschauen können, was Katar macht. Das gilt beispielsweise für die Situation auf den Baustellen und die toten Gastarbeiter. Es war ja ein Rechercheartikel der englischen Zeitung "Guardian", die die Geschichte vor gut zwei Jahren ins Rollen gebracht hat - und nicht die Fifa. Erst nach der Aufdeckung hat man reagiert und im Sinne der Imagepflege auf den Reparaturmodus umgeschaltet.
Die Politik muss wach werden. Wir haben es bei der Fifa mit einem Akteur zu tun, der gewissermassen die Weltgeschicke hochgradig mitgestaltet, aber dies nicht immer zum Guten tut und dabei in keiner Weise demokratisch legitimiert ist. Deshalb müsste man sie mehr an die Leine nehmen. Dabei ist auch die Schweiz als ihr Domizil gefragt. Ist die Fifa noch eine gemeinnützige Organisation, verbunden mit diversen Vorteilen? Das könnte man mal juristisch prüfen.
Es ist wichtig, dass es sich dabei nicht um reine "Feel Good"-Massnahmen handelt. Ein Zeichen zu setzen, kann manchmal wichtig sein. Aber wenn das nur auf einer symbolischen Ebene abläuft, wird es problematisch. Wir werden nun eine Vielzahl solcher Signale sehen. Ich will das gar nicht runterspielen - aber da machen wir uns als Gesellschaft auch etwas vor.
Ich würde nicht sagen kontraproduktiv. Nicht jede Massnahme einer Firma im Zusammenhang mit Ethik dient dem reinen Marketing. Man darf die Bedeutung der Wirtschaft nicht unterschätzen, wenn es darum geht, Werte zu artikulieren. Die Anti-Sponsor-Kampagne von "Brewdog" kommt gut und cool daher. Zugleich zeigen sie die Spiele in ihren Bars. Hallelujah, typischer Bullshit!
Es stellt sich dabei die Frage, welche Werte wir verteidigen wollen. Natürlich gibt es da einen Unterschied zwischen Alkoholverbot und etwa der Diskriminierung von Homosexuellen. Da müssen wir als Gesellschaft festlegen, was für uns nicht verhandelbar ist. Dafür dann nicht einzustehen, würde heissen, dass wir uns gewissermassen selbst aufgeben.
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