Schon mein Weg zum „Heidi's am Offenbach", so der Name des fiktiven Schauspielhauses, das eigens für diese außergewöhnliche Produktion erschaffen wurde, gleicht einem Walkürenritt. Rettungswagengeheul gellt wie die Schreie der neun Töchter Wotans durch regennasse Kölner Stadtstraßen. Ich irre durch schwarz-dunkle Gassen, bis ich endlich vor einem unscheinbaren Hintereingang stehe. Mit mir eine Handvoll anderer Zuschauer. Punkt zwanzig Uhr öffnet sich die Tür. Premierenbeginn.
Ein italienisch sprechender Mittelalter-Metall-Zombie bittet uns freundlich herein, und dann sitzen wir schon - selbstverständlich im korrekten Sicherheitsabstand - in einer „Bar", wenn man das Achtziger-Jahre-Eiche-Rustikal-Interieur so nennen mag. Passender Retro-Sound (Jacob Suske) erklingt im Hintergrund, dann gesellt sich eine weitere, weibliche „Zombine", vielleicht ja: Albtraum-Walküre, dazu und tanzt einen Lapdance an der Stange. Daneben die „Dramaturgin" des Hauses: „Katya Neidinger" (Jens Urbańczyk-Lassak). Und weil wir schon mal an kleinen runden Tischchen Platz genommen haben, Partyhut und Rachenputzer-Schnaps inklusive, hat sie Zeit, den Zweck unseres heutigen Daseins zu erklären: Man arbeite an einer Inszenierung der „Walküre" von Richard Wagner und freue sich, jetzt exklusive Einblicke geben zu können. Uraufführung sei dann aber erst am 11. Februar 2021, das hervorragende, bunt gemischte Ensemble „so farbenfroh, wie der rumänische Sommer". Bevor wir dann wirklich starten, ergänzt sie: „Zur Toilette gehen Sie bitte nur allein. Oder mit mir."
Was jetzt kommt, ist zu viel für einen Menschen. Und einen Abend. Denn in den folgenden rund drei Stunden wird man von den Walküren-Zombies durch das Haus geführt, macht Station vor lebendigen Dioramen, die Wagner-Motive metareferieren (etwa Menschenaffen, die auf Ebern reiten); wir besichtigen das Fitness-Studio des „Heidi's am Offenbach", treffen in der Kantine einige der Darsteller zum Plausch, weitere dann in ihren Garderoben, wo sie uns wie bei einer WG-Party Schnaps in Plastikbechern und Würstchenspieße anbieten. Natürlich sehen wir auch einen Teil der „Proben" im großen Saal.
Doch zunächst muss ich mit meiner kleinen Gruppe im Vorraum warten. Eine der Walküren spricht mich an, als ich das „Diorama" beschaue: „Was ist dein Albtraum, Thomas?", fragt sie. Und ich antworte so spontan wie von mir selbst überrascht: „Jemanden zu enttäuschen!" Dann fragt sie meinen Sitznachbarn Paul. Und auch der antwortet so unvermittelt wie ehrlich im Angesicht eines Eisbären mit kaputtem Telefon: „Ich habe Angst, den Hörer abzunehmen und mit einem Menschen sprechen zu müssen, den ich enttäuscht habe." Fast wie eine Gruppentherapie-Sitzung. Ob ich mitmache, ist natürlich meine Sache. Aber wenn ich schon mal da bin - warum nicht? Und das ist auch eine Bedingung dafür, dass man etwas mitnimmt, von dieser höchst speziellen „Walküre", „frei nach Richard Wagner". Ich frage zwischendrin einen Mit-Zuschauer, ob es ihm gefällt: „Kann ich erst hinterher sagen", sagt er und lacht. „Aber ich habe riesig viel Spaß." Das scheint auch für viele andere meiner Mitstreiter zu gelten.
Und so fühlen sich die drei Stunden an wie das Erkunden eines Computerspiels mit riesiger, offener Welt. Nur, dass ich nicht einmal meine Virtual-Reality-Brille aufsetzen muss, sondern direkt immersiv in eine analog-virtuelle Realität eintauche. Ich kann jeden ansprechen, mit allen Performerinnen und Performern interagieren – und sie reagieren aus ihren Rollen heraus. T. B. Nilsson und Julian Wolf Eicke, die kreativen Köpfe hinter der Inszenierung, sind für solch eine Art von Theater bekannt.
Ein Skelett grinst mich an
Dann sitze ich im großen Saal, dessen Ausstattung irgendwo zwischen Münchner Brauhaus, Walhall und Walkürenfelsen zu verorten ist, höre die gesprochenen Wagner-Worte auf der Bühne. Ein Skelett mit Rüstung grinst mich an – und ich stelle fest: Der ganze Saal ist voller Skelette. Sie alle sehen stumm den Proben zu und sorgen nebenbei für reichlich Sicherheitsabstand. Bis es zur Tanzeinlage in der „Pause“ kommt: eine gut plazierte Referenz an den „Tannhäuser“, für dessen Erstaufführung 1861 in Paris Wagner eigens den dortigen Gepflogenheiten folgend ein Ballett in die Oper hatte integrieren müssen (ein berühmter Opernskandal folgte). Die Kölner Inszenierung setzt allerdings auf Lady Gaga und Ariana Grande mit „Rain On Me“.
Man kann diesen Abend nicht angemessen in Worte fassen. Er ist Gesamtkunstwerk, interaktives Opus Magnum, bahnbrechend für künftige Hinführungen zum Wagnerschen Œuvre. Was für die Inszenierung spricht, ist ihre bemerkenswert ins Detail gehende Auseinandersetzung mit der selbstkonstruierten Realität. Man kann Flyer eines fiktiven „HUGR-Programms“ zur Unterstützung „depressiver, suizidgefährdeter Heranwachsender“ mitnehmen, es gibt E-Mail-Adressen, an die man reale Fanpost oder Fragen an die Figuren schicken kann (hallo.hugr@web.de), man bekommt sogar das Angebot, eine Biographie des fiktiven Theatermachers und Creative-Minds vom „Heidi’s am Offenbach“, Kurt Hermann Johns, zu kaufen, mitsamt aufwendig „recherchiertem“ Klappentext. Nur schade, dass es bei so viel Kreativität ausgerechnet bei der Person Wagner hakt. Hier befrage ich den einen oder anderen fiktiven Darsteller nach „dem Meister“ und bekomme oft – kaum Feedback.
Dass man sich hier nicht so stark wie üblich auf das konkrete Werk oder dessen Verfasser konzentriert, erklärt mir die Dramaturgin, Lea Goebel, die ich am Ende des Abends in der Bar treffe: „Wir haben uns auf Motive fokussiert statt auf chronologische Erzählung.“ Der Kosmos, der entstanden sei, „lotet die dunkle, mythologische Wagnerwelt aus“. Dass das Werk des Komponisten und Dichters dabei nicht immer nur ernst genommen werden sollte, formuliert sie mit einem Augenzwinkern: „Es hat auch manchmal was von ,Gute Zeiten, schlechte Zeiten‘ oder ,Sturm der Liebe‘.“
Was habe ich da eigentlich erlebt? Als ich das „Heidi’s am Offenbach“ verlasse, weiß ich es nicht genau. „Dem Meister“ hätte diese Hinführung zu seinem Werk sicher gefallen. Eine „Ring“-Tetralogie in Bayreuth oder anderswo ist dadurch aber nicht überflüssig geworden. Sie bleibt notwendig, um die große Musik und die komplexe Erzählung im Original zu erleben. Dazu reicht das leise Walkürenritt-Gesäusel im Treppenhaus an diesem Abend doch nicht aus. Man kann schließlich nicht alles haben.
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