Jahrzehntelang hat Gidon Lev nicht öffentlich über sich und sein Leben als Holocaust-Überlebender gesprochen. Erst im hohen Alter begann er, von den furchtbaren Jahren im KZ Theresienstadt zu erzählen, in das die Nazis ihn als sechsjährigen jüdischen Jungen deportierten hatten. Und erst vor Kurzem, mit 86 Jahren, hat Lev das Medium gefunden, das ihm nun weltweit Gehör verschafft.
TikTok - Lev nutzt die Kurzvideoplattform nicht nur, um seiner Lust am Tanzen nachzugehen, sondern vor allem, um über den Holocaust aufzuklären. In seiner Wohnung in einem Vorort von Tel Aviv sammelt er alles, was an seine größtenteils im Holocaust ermordete Familie erinnert. Überlebt haben nur seine Mutter und er.
Gidon Lev, TikToker "Das ist mein Onkel Gustav, der Ehemann meiner Tante und Vater von Hans. Das ist meins: Transport am 14.12.1941. 15.000 Kinder waren vorübergehend oder länger im KZ Theresienstadt. Von diesen haben 91 oder 92 überlebt. Ich bin eines von ihnen."
Und genau davon will Lev auch den mehr als 400.000 Followern seines Kanals "thetrueadventures " erzählen. Und zwar nicht wie ein Geschichtslehrer, sondern wie ein TikToker: also als Mensch mit Hobbys, Interessen, Problemen, jemand, der seinen Alltag teilt - und manchmal eben auch seine besten Tanzmoves.
Levs überwiegend junge Follower haben teilweise noch nicht viel über den Holocaust gelernt. Sie schicken ihm Fragen wie diese: "Was ist Antisemitismus? In meinem Land wird in der Schule nicht über den Holocaust gesprochen. Alles, was ich darüber weiß, stammt aus dem Internet. " Und dieser User fragt: "Haben Sie je Anne Frank kennengelernt? "
Lev beantwortet viele Fragen geduldig. Die Aufklärung über die Nazi-Zeit sieht der 87-Jährige als seine Hauptaufgabe. Aber schnell lernt er auch die Schattenseiten der sozialen Medien kennen.
Gidon Lev, TikToker "Als wir mit TikTok anfingen, wurde uns klar, dass es dort so viele Leute gibt, die so voller Hass, Antisemitismus und Ignoranz sind, dass wir dagegen aufstehen müssen und es bekämpfen müssen. Und genau das tun wir."
Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Julie Gray zieht Lev in diesen Kampf gegen den Antisemitismus im Netz. Dabei debattieren die beiden immer wieder eine Frage: Auf welche Anfeindungen soll man überhaupt eingehen?
Julie Gray, TikTokerin "Auf TikTok schreibt uns einer: Juden kontrollieren doch die Banken, warum seid ihr dann so geizig? So etwas sehen wir jeden Tag."
Gidon Lev, TikToker "Was antworten wir dem?"
Julie Gray, TikTokerin "Dieser Person antworten wir nicht. Das verdient der nicht. Der verdient, bei TikTok gemeldet zu werden."
Julie Gray, TikTokerin "Wir antworten beinahe nie auf wirklich hasserfüllte Kommentare, denn das gibt den Trollen nur mehr Energie. Manchmal aber antworten wir, um zu demonstrieren, wie viel Antisemitismus es auf TikTok gibt."
Gidon Lev, TikToker "Mein natürlicher Impuls ist: Schlag' zurück! Lass dir das nicht gefallen. Aber mir ist klar, und das haben uns auch Leute auf TikTok gesagt - je mehr man zurückschlägt, desto mehr Aufmerksamkeit bekommen sie, und das wollen wir nicht. Aber hin und wieder muss ich einfach sagen, was ich von solchen Leuten halte."
Und so lässt Gidon Lev hin und wieder seine Wut über den Online-Hass vor der Kamera raus - wenn es sein muss, sogar auf Deutsch.
Online ist das Leugnen des Holocausts an der Tagesordnung, die relativierenden Vergleiche mit den Corona-Maßnahmen, mit dem Nahost-Konflikt. Lev antwortet mit Fakten. Und manchmal auch mit der Botschaft eines 87-jährigen Überlebenden: Ich bin noch da.