Die europäische Chemie-Lobby zählt zu den einflussreichsten in Brüssel. Mehrere Millionen Euro verwenden Chemiekonzerne (darunter auch deutsche) jedes Jahr laut der NGO Lobbyfacts.eu darauf, die Politik in eine für ihre Geschäfte genehme Richtung zu lenken. Eine Investition, die sich lohnt, wie jetzt die britische Tageszeitung The Guardian berichtet.
Eine wissenschaftliche Studie, die strengere Vorgaben für gesundheitsschädliche Chemikalien empfiehlt, wurde laut Recherchen des Guardian-Redakteurs Arthur Neslen auf Druck der Chemieindustrie nicht zu Konsultationen herangezogen.
Pestizide im BlickpunktDas Paper hätte möglicherweise ein Verbot zahlreicher, kritischer Chemikalien nach sich gezogen. Es geht dabei um sogenannte endokrin aktive Substanzen (EAS), hormonähnlich wirkende Stoffe, die beispielsweise in Hygieneartikeln, Kosmetik und in der Landwirtschaft eingesetzt werden.
Im schlimmsten Fall können sie, so glauben einige Forscher, zu Missbildungen bei Neugeborenen, genitalen Abnomalien, Unfruchtbarkeit und weiteren Krankheiten wie Krebs und Gedächtnisschwund zu führen.
Derzeit müssen sich vor allem Pestizide aus der Landwirtschaft den Vorwurf gefallen lassen, negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit zu haben.
Ein unverhältnismäßges GesundheitsrisikoBeim Handel mit Produkten aus dieser Stoffklasse geht es nach Angaben der Lobbyorganisation European Crop Protection Association (ECPA) um einen jährlichen Markt im Wert von acht bis neun Milliarden Euro.
„Wenn die Kommission die empfohlenen Kriterien für Höchstgrenzen übernommen hätte, wären heute bereits 31 Pestizide verboten," sagt Angeliki Lyssimachou, Umwelttoxikologin bei der Nichtregierungsorganisation Pesticides Action Network (PAN). Das hätte zu massiven finanziellen Einbußen bei einigen Chemieunternehmen geführt.
Bei der Auseinandersetzung um die endokrindisruptiven Eigenschaften dieser Stoffe geht es vor allem um die Frage: Bedarf es neuer Kriterien zur Einschätzung des Gesundheitsrisikos?
Bisher werden hier vor allem Potenziale angeführt und zwischen niedrigpotenten und hochpotenten Stoffen unterschieden. Das wissenschaftliche Paper, dessen Veröffentlichung nun verhindert wurde, empfiehlt hingegen eine strengere Klassifizierung, da auch bei niedrigpotenten Stoffen ein unverhältnismäßiges Risiko bestehe.
Kontakte zur Chemieindustrie„Wir waren bereits so weit, die Kriterien anzuwenden und eine Handlungsempfehlungen auszusprechen," so die Aussage einer namentlich nicht genannten Quelle aus EU-Kommissionskreisen gegenüber dem Guardian.
„Tatsächlich wurden diese Kriterien verhindert." Schon 2013 sollen die verantwortlichen Kommissionsmitarbeiter von der Chemieindustrie kontaktiert worden sein, mit der Warnung, dass die Umsetzung der Kriterien negative ökonomische Auswirkungen hätte.
Daraufhin sei es zu einem Stopp des bisherigen Arbeitsprozesses gekommen, sagt der Mitarbeiter weiter. Die neue Vorgabe lautete, eine „harmonisierte Anwendung" für die Kriterien zu finden.
Gegenüber dem Guardian erklärt die für diesen Schritt verantwortliche EU-Generalsekretärin Catherine Day, es sei zu Unstimmigkeiten zwischen den Generaldirektionen Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (GD SANCO) und dem Ausschuss für Umweltfragen (ENVI) gekommen.
Höchstgrenzen sind nicht ausreichend„Sie haben in unterschiedliche Richtungen gearbeitet, was keinen Sinn ergeben hat, so dass ich interveniert und eine gemeinsame Risikofolgenabschätzung forciert habe - mit dem Ziel, eine Analyse zu erhalten, auf deren Grundlage die Kommission weiterarbeiten kann", so Catherine Day im Guardian.
Und weiter: „Es ist unnötig zu erwähnen, dass es nicht der Wahrheit entspricht, unsere Verhandlungen und abschließende Position sei von der Industrie beeinflusst."
Die abschließende Position entspricht jedoch in weiten Teilen den Vorstellungen der Industrie. Laut Guardian wird diese Position auch in britischen und deutschen Regierungskreisen befürwortet.
Den Erkenntnissen des unveröffentlichten Papers entspricht das allerdings nicht. Es gebe „keine wissenschaftlich-fundierte Möglichkeit, Höchstgrenzen für EAS akurat zu bestimmen", so das Ergebnis des Forschungsberichts.
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