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Fast jedes dritte Kind in Deutschland kommt per Kaiserschnitt zur Welt

Foto: Jonathan Borba on Unsplash

Die Kaiserschnittrate in Deutschland hat sich seit 1991 verdoppelt und nimmt weiter zu. Ob Mutter und Kind von dem Eingriff profitieren, ist fraglich. Denn nur 10 Prozent der Kaiserschnitte sind medizinisch notwendig. Das soll sich jetzt ändern. 


Wenn Melanie Kaufmann, die eigentlich anders heißt, über ihre erste Entbindung spricht, dann nennt sie es eine "Geburt mit Gewalt". Eine Geburt, bei der über ihren Kopf hinweg entschieden worden sei und deren Ablauf sie heute schmerzt. An einem Samstagmittag vor fünf Jahren fuhr sie mit den ersten Wehen in das Krankenhaus ihrer Wahl in Freiburg. Die Geburt ging entspannt los, die Hebamme und sie selbst waren guter Dinge.


24 Stunden später hatte das Personal gewechselt, die neue Hebamme empfahl Kaufmann und ihrem Mann plötzlich einen Kaiserschnitt. "Weil ich so erschöpft gewesen sei. Dabei hatte ich, bis sie kam, ein gutes Gefühl", sagt Kaufmann heute. Während sie sich mit ihrem Mann beriet, wurde das Bett für den OP-Saal schon vor die Tür geschoben, erinnert sie sich. "Ich hatte das Gefühl, dass ich nach 24 Stunden mal für Platz im Kreißsaal sorgen soll."


Weil sie letztendlich per Sectio entbunden wurde, wollte das nächste Krankenhaus sie auch beim zweiten und dritten Kind nur per Kaiserschnitt entbinden. Gerade ist Kaufmann mit ihrem vierten Kind schwanger. Überleben wird es nicht, denn der Fötus hat sich in ihrer Kaiserschnittnarbe eingenistet. "Meine erste Geburt hat vieles kaputtgemacht", sagt Kaufmann.


Zu langsam, auffällige Herztöne, schon eine Sectio sind die häufigsten Gründe für die OP


Laut des "Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen" sind nur zehn Prozent aller Kaiserschnitte in Deutschland medizinisch zwingend notwendig. Häufig entbinden Frauen per Sectio, weil ihr vorheriges Kind so entbunden wurde, die Herztöne des Kindes auffällig sind oder die Geburt zu langsam verläuft.


Eine neue sogenannte S3-Leitlinie für Kaiserschnitte soll das nun ändern. Sie wurde im Juni von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften veröffentlicht. Leitlinien geben medizinischem Personal Empfehlungen, wie Patienten am besten behandelt werden. S3-Leitlinien sind unter den medizinischen Leitlinien am aufwendigsten, aber auch am verlässlichsten. Sie tragen nicht nur den Stand des Wissens über ein Fachgebiet zusammen, sondern sind auch relevant für richterliche Gutachten und müssen hohen medizinischen Standards gerecht werden. Auch Schwangeren soll die Leitlinie zukünftig helfen – zum Beispiel bei Fragen zur Beratung, dem sichersten Zeitpunkt der Geburt, der optimalen Durchführung oder dem frühestmöglichen direkten Hautkontakt von Mutter und Kind.


Deutschlands Kaiserschnittrate liegt heute bei 30 Prozent



Auch wenn die Leitlinie keine anstrebenswerte Sectio-Rate für Deutschland vorgibt oder auch nur benennt – darüber diskutiert wird in der deutschen Geburtsmedizin trotzdem. Denn die Kaiserschnittrate hierzulande hat sich seit 1991 verdoppelt – und liegt heute bei etwa 30 Prozent. Das ist zwar europäisches Mittelfeld. In der S3-Leitlinie heißt es aber, dass bei einer Rate über 15 Prozent nicht mehr von einem positiven Einfluss auf die Gesundheit von Mutter und Kind ausgegangen werden kann.


Die Gründe für Deutschlands hohe Kaiserschnittrate sind vielschichtig, sagt Bärbel Basters-Hoffmann. Sie ist seit Januar Chefärztin der Klinik für Geburtshilfe und Perinatologie im Freiburger St. Josefskrankenhaus, zuvor hat sie mit dem St. Elisabethen-Krankenhaus in Lörrach und dem Freiburger Diakoniekrankenhaus in Häusern mit sehr niedrigen Sectio-Raten gearbeitet.


Laut Basters-Hoffmann gibt es hierzulande mehr risikobehaftete Schwangerschaften, zum Beispiel aufgrund von künstlicher Befruchtung, Mehrlingen, älteren oder erkrankten Müttern. Lange Zeit habe man zudem geglaubt, durch den Kaiserschnitt maximale Sicherheit und Kontrolle für Mütter und Kinder zu gewinnen. Ein Kaiserschnitt kann aber auch zu mehr Komplikationen und Langzeitfolgen führen.


Kaiserschnitte sind besser planbar für die Kliniken



Andrea Ramsell vom Deutschen Hebammenverband sieht einen weiteren Grund für die hohe Quote im Betreuungsschlüssel der Kliniken. Habe eine Hebamme im Kreißsaal früher eine Frau betreut, seien es nun mehrere auf einmal. "Eine Hebamme muss schnell eingreifen, wenn sich die Wehen ändern, die Frau gestresst ist oder Nahrung braucht, weil sie erschöpft ist. Das verpasst sie, wenn sie drei Frauen zugleich betreut. Das führt auch zu Unruhe und Unsicherheit bei den Frauen und Paaren", so Ramsell. So kann es im Laufe der Geburt zu einem sekundären, einem ungeplanten Kaiserschnitt kommen.


Kaiserschnitte – vor allem die primäre Sectio, bei der die Klinik den Geburtstermin vorab festlegt – sind für Kliniken besser planbar als vaginale Geburten. Sie dauern kürzer, brauchen weniger Personal und werden noch dazu besser vergütet. Das schreibt das Science Media Center (SMC), eine unabhängige Wissenschaftsredaktion, in einer aktuellen Analyse. Es beruft sich auf die Auswertung von Fachliteratur und Gesprächen mit Ärzten aus mehreren europäischen Ländern. Ins Gewicht fällt laut SMC auch die Angst vor juristischen Auseinandersetzungen bei den Kliniken, falls eine natürliche Geburt schief geht. "Vor Gericht wird eher gefragt, warum man keinen Kaiserschnitt gemacht hat", bestätigt auch Ramsell.



Mit Vorurteilen aufräumen



Dass mehr Kaiserschnitte gemacht werden, hat allerdings auch zur Folge, dass die Expertise der Geburtshelfer in Sachen vaginaler Geburt sinkt. Das Problem ist laut SMC umso größer, je kleiner die Kliniken sind. Je häufiger man bei Zwillingen, Beckenendlagen oder vorausgegangenen Kaiserschnitten einen erneuten Kaiserschnitt mache, desto eher erscheine dies als "normales Vorgehen", sagt Basters-Hoffmann. Dass eine Frau nach einer Sectio nicht mehr vaginal gebären könne, sei zum Beispiel ein Vorurteil, mit dem aufgeräumt werden müsse.


Für Basters-Hoffmann und Ramsell lautet die wichtigste Konsequenz aus der Leitlinie, dass Frauen und Paare umfassend über Ablauf, Vor- und Nachteile eines Kaiserschnitts aufgeklärt werden müssen. Jeder Frau, die sich eine vaginale Geburt wünsche, sollte dies nach bestem Wissen und Gewissen ermöglicht werden, sagt Basters-Hoffmann. Dazu gehöre auch, dass eine Klinik, der die Praxis für schwierige Geburtssituationen fehlt, Schwangere an andere Häuser überweise, statt den Kaiserschnitt als alternativlos darzustellen. Manche Frauen müssten aber weiterhin per geplantem Kaiserschnitt gebären. Dann sollte ein Kaiserschnitt höchstens eine Woche vor dem errechneten Geburtstermin stattfinden, so Basters-Hofmann. Für Kind und Mutter, heißt es in der Leitlinie, sei es außerdem von Vorteil, wenn der Geburtsprozess schon begonnen habe.


Schlussendlich gehe es nicht um Raten, die es einzuhalten gelte, sagt Basters-Hoffmann. Stattdessen sollte sich jeder Geburtshelfer mit seiner Rolle auseinandersetzen. Ist Geburt ein "potentiell gefährliches Ereignis, so risikobehaftet, dass sie eigentlich nur im Schutze eines medikalisierten Umfeldes gelingen kann?" Oder unterstütze man Mutter und Kind wachsam, aber zurückhaltend bei einem natürlichen Prozess? Letztere Denkweise führe ganz automatisch zu weniger Kaiserschnitten, schätzt Basters-Hoffmann.

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