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Azubi-Elend in Bayern: Warum es vielen Auszubildenden schlecht geht

Zu viel Arbeit, zu wenig Geld: Viele Azubis in Bayern sind mit ihrer Ausbildung unzufrieden. Statt zu lernen, müssen einige putzen oder Botengänge machen. Ausbildungen werden immer unbeliebter - was das für Folgen hat. 

Lisa ist mit großen Erwartungen in ihre Ausbildung gegangen. Haare schneiden, färben, Frisuren machen – das wollte sie unbedingt können. Doch nach ein paar Monaten kam der Frust. Statt Haare schneiden zu lernen, musste sie mit einem Pinsel die Fugen zwischen den Fliesen ausfegen, die Toilette putzen und die Mutter ihrer Chefin zu privaten Terminen begleiten. Dafür bekam sie pro Monat 301 Euro netto. Über ihre Ausbildung sagt die Frisörin: "Ich habe meine Zeit verschwendet und so gut wie nichts gelernt."

Was Lisa erlebt hat, ist keine Seltenheit. Ähnlich wie ihr geht es vielen Azubis in Deutschland. Sie klagen über schlechte Arbeitsbedingungen und zu wenig Geld. Das Lernen, das eigentliche Ziel einer Ausbildung, kommt dabei oft zu kurz. "Lehrjahre sind keine Herrenjahre", lautet ein alter Spruch. In den Köpfen einiger Chefs hat sich daran offenbar nichts verändert.

Studien verdeutlichen, dass vieles im Argen liegt: Im Ausbildungsreport 2015 des Deutschen Gewerkschaftsbundes geben 30 Prozent der befragten Azubis ihrer Ausbildung ein "befriedigend" bis "mangelhaft". 40 Prozent sagen, dass sie regelmäßig Überstunden machen. Und auch die Ausbildungsvergütung bereitet den Lehrlingen Probleme: Jeder Zweite kann von dem, was er verdient, nicht leben. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den Branchen: Bäcker und Fachverkäufer im Lebensmittelhandwerk verdienen im ersten Jahr 470 Euro pro Monat, in der Metall- und Elektroindustrie gibt es im Durchschnitt 946 Euro. Seit ein paar Jahren wird den Metallern außerdem garantiert, dass sie nach der Ausbildung übernommen werden. In anderen Branchen wird den Auszubildenden nichts versprochen.

Jeder vierte Lehrling löst seinen Vertrag auf

Die Unzufriedenheit der Azubis hat Folgen, die auch die Arbeitgeber zu spüren bekommen. Jeder vierte Lehrling löst seinen Vertrag vorzeitig auf, wechselt also den Betrieb oder bricht die Lehre ab. Jedes Jahr bleiben viele Lehrstellen unbesetzt: 2015 waren es in Deutschland 41.000 Stellen, in Bayern mehr als 10.000. Dem bildungspolitischen Sprecher der bayerischen Industrie- und Handelskammern, Hubert Schöffmann, bereitet das Sorgen: "Jeder nicht besetzte Ausbildungsplatz ist eine fehlende Fachkraft von morgen." Die Lage ist ernst: Laut Schöffmann zeigen Prognosen, dass in Bayern im Jahr 2030 400.000 Fachkräfte fehlen werden. Der größte Teil davon seien beruflich Qualifizierte, also Menschen, die eine Ausbildung gemacht haben.

Für den Mangel an Azubis sind unter anderem die geburtenschwachen Jahrgänge verantwortlich und der Trend, dass immer mehr junge Menschen studieren. Doch auch das schlechte Image einiger Ausbildungsberufe sorgt dafür, dass sich immer weniger junge Menschen für eine Ausbildung entscheiden.

Vertrauenslehrer bekommt Maulkorb

Über die Missstände wird öffentlich nicht gern gesprochen. Das haben wir auch bei der Recherche für unser PULS Azubi-Special erlebt. Die Direktorin einer Münchner Berufsschule pfiff ihren Vertrauenslehrer zurück, als er uns Kontakt zu Schülern vermitteln wollte. Die Begründung: Die Schule sehe sich als dualer Partner der Wirtschaft. Einen Bericht, der die Ausbildung möglicherweise auch kritisch beleuchtet, könne man deshalb nicht unterstützen.

Unter den Auszubildenden, die Probleme im Betrieb haben, dominiert die Angst. Viele wollten keine Interviews geben. Eine Auszubildende sagte ihren Interviewtermin im letzten Moment ab. Sie klagte gerade gegen ihre ehemalige Chefin und hatte Angst, dass diese den Bericht gegen sie verwendet. Die Azubis, die wir schließlich getroffen und porträtiert haben, haben ihre Ausbildung gerade abgeschlossen. Sie fühlen sich freier, offen über die Zeit als Lehrling zu sprechen.

Wie Daniel, der eine Koch-Ausbildung gemacht hat. Er erzählt, dass er schon Überstunden machen musste, als er noch keine 18 Jahre alt war: "Als ich mit 15 meine Ausbildung angefangen habe, hätte ich laut dem Jugendschutzgesetz nur bis 20 Uhr arbeiten dürfen. Meistens bin ich aber erst zwischen 22 und 22.30 Uhr nach Hause gekommen."

Adriana, die bei der Telekom zur Kauffrau für Bürokommunikation ausgebildet wurde, fühlte sich unterfordert. Oft hatte sie nichts zu tun, aus Langeweile sortierte sie Telefone. Wenn sie jetzt in ihrem Beruf arbeiten sollte, wäre sie dafür nicht gewappnet, sagt sie: "Ich müsste sagen: Tut mir leid, von Sekretariatsaufgaben habe ich keine Ahnung, mit dem Programm SAP habe ich noch nie gearbeitet. Das ist krass, weil das eigentlich die Voraussetzungen für den Job sind." Adriana hat sich dafür entschieden, ihr Abi zu machen und danach zu studieren.

Azubis in Not - wie entstehen die vielen Probleme während der Lehrzeit und was liegt strukturell im Argen? Darüber haben wir mit Auszubildenden, Arbeitgebern und Gewerkschaften gesprochen. Wir haben die wichtigsten Themen unter die Lupe genommen und uns auf die Suche nach Erklärungen und Lösungsansätzen gemacht.

1. Viele Azubis verdienen wenig Geld. Kein Gesetz regelt, was ihnen zusteht.

Es gibt kein Gesetz, das festlegt, wie viel Geld ein Azubi bekommen soll. Im Berufsbildungsgesetz steht lediglich, dass Lehrlinge eine "angemessene" Ausbildungsvergütung erhalten sollen, die mit den Lehrjahren ansteigt. In den meisten Branchen gibt es tarifliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Betriebe, die nicht an den Tarif gebunden sind, haben aber das Recht, den Satz um 20 Prozent zu unterschreiten.

Auszubildende bekommen außerdem keinen Mindestlohn. Aber warum ist das so? Ist die Arbeit der Azubis der Wirtschaft weniger wert als die einer ungelernten Hilfskraft? Für Hubert Schöffmann, den bildungspolitischen Sprecher der bayerischen Industrie- und Handelskammern, ist die Antwort klar: "Die Ausbildungsvergütung dient nicht der Sicherung des Lebensunterhaltes. Sie ist ein Anreiz, eine Ausbildung zu machen." Wer glaubt, er müsse davon ohne weitere Unterstützung sein Leben finanzieren, habe etwas falsch verstanden.

Simon Schab, Jugendsekretär des Deutschen Gewerkschaftsbundes in München, sieht das anders. Dass die Azubis keinen Mindestlohn bekommen, rechtfertige die Politik damit, dass die Ausbildung ein Lernverhältnis sei. "In der Praxis ist es aber selten so, dass es wirklich ein reines Lernverhältnis ist", sagt Schab. "Die Azubis müssen anpacken. Oft werden sie einfach als günstige Arbeitskräfte hergenommen." Dann müsse man sie auch entsprechend bezahlen.

2. Überstunden sind in einigen Branchen ganz normal. Das belastet die Gesundheit der Azubis

Überstunden gehören zum Alltag vieler Azubis dazu. Laut dem DGB-Ausbildungsreport muss mehr als ein Drittel regelmäßig Überstunden machen. Besonders schlimm ist es in der Gastronomie- und Hotelbranche: Hier macht jeder Zweite regelmäßig Überstunden.

Eigentlich ist es aber nicht vorgesehen, dass Azubis Extrastunden schieben. Rechtlich gesehen ist es sogar so, dass sie - im Gegensatz zu normalen Mitarbeitern - Überstunden nur freiwillig machen müssen.

Dass die Azubis so ranklotzen, wirkt sich auf ihre Gesundheit aus. Wie ein neuer Report der AOK zeigt, hat mehr als die Hälfte häufig körperliche Beschwerden. Vor allem Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und Verspannungen plagen die Azubis. Beinahe jeder Zweite fühlt sich häufig müde und erschöpft. 

3. Die Inhalte in der Ausbildung werden oft vernachlässigt. Stattdessen werden die Lehrlinge als billige Arbeitskräfte missbraucht

Der Vorwurf vieler Azubis lautet: Wir lernen nichts. Manche Betriebe nutzen ihre Lehrlinge als billige Arbeitskräfte oder spannen sie für Hilfstätigkeiten wie Kaffee kochen oder Botengänge erledigen ein. Solche Arbeiten werden als ausbildungsfremde Tätigkeiten bezeichnet. Darunter fallen auch Arbeiten, die nicht dem Niveau des Lehrlings entsprechen. Wer zum Beispiel im ersten Jahr gelernt hat, die Kasse zu machen und im zweiten Lehrjahr nur das tut, statt etwas Neues zu lernen, verrichtet ebenfalls eine ausbildungsfremde Tätigkeit.

Im DGB-Ausbildungsreport geben 20 Prozent der Azubis an, manchmal solche Tätigkeiten zu erledigen. Bei jedem Zehnten passiert das häufig oder sogar immer.

4. Viele Azubis trauen sich nicht, die Probleme im Betrieb anzusprechen. Sie leiden still

In Internetforen wie dem "Kummerkasten" von azubi.net oder dem Forum "Dr. Azubi" des DGB lassen die Auszubildenden ihren Frust raus. Sie klagen über unfaire Chefs und Kollegen, die sie mobben. Den Schritt, die Missstände im Betrieb  anzusprechen, machen aber nur wenige.

Simon Schab vom DGB hat beobachtet, dass Azubis oft „zu viel schlucken, zu viel hinnehmen“. Dass sie auf der untersten Stufe der Hierarchieleiter stünden, mache es ihnen besonders schwer, Kritik zu üben. "Azubis sind komplett abhängig. Das ist der Einstieg ins Berufsleben, da hätte man gerne ein gutes Ausbildungszeugnis vom Betrieb und vielleicht auch eine Übernahme."

Angela Inselkammer vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband schlägt den Azubis in ihrem Betrieb bei Konflikten Schlichtungsgespräche vor. Ähnliche Angebote gibt es auch von der Industrie- und Handelskammer. Inselkammer würde sich von den Azubis aber mehr Durchhaltevermögen wünschen: "Die Menschen sind empfindlicher geworden, das war früher anders", sagt sie. Früher habe man auch mal etwas durchgestanden. "Heute sagen gerade junge Menschen eher: Dann mach ich halt was Anderes."

5. Die Azubis sind kaum vernetzt. Meist kämpft jeder für sich allein

Azubis sind untereinander nur schlecht vernetzt. So etwas wie den Asta, den Allgemeinen Studierendenausschuss, gibt es für Azubis nicht. Größere Betriebe haben oft eine Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV), kleinere eher nicht. In Gewerkschaftsgruppen können Azubis sich über ihren eigenen Betreib hinaus mit anderen Lehrlingen austauschen, aber nur ein kleiner Teil ist überhaupt Mitglied.

Dadurch fehlt den Auszubildenden ein gemeinsames Sprachrohr - und eine gemeinsame Lobby, um ihre Interessen gegenüber Politik, Wirtschaft und der Öffentlichkeit zu vertreten. Bislang kämpft meist jeder für sich allein.



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