Julie, 18, hat kaum geschlafen in der vergangenen Nacht, dunkle Schatten liegen unter ihren blauen Augen. "Wir sind seit 4 Uhr morgens hier", erzählt die Schülerin. Sie und ihre Freundin Mischa waren die ersten, die einen Platz auf den Stufen vor der Kunstgalerie Lucerna in der Prager Innenstadt bezogen. Nun stehen sie ganz vorn in einer Schlange von mehr als 150 Menschen.
Julie, Mischa und die anderen Wartenden sind hier, um etwas zu geben: "Ein Quadratzentimeter deiner Haut für Menschenrechte" steht auf Transparenten.
Und mehr als einen Quadratzentimeter brauchen die Künstler des "Human Rights Tattoo"-Projektes auch nicht für ihre Mission: Sie tätowieren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen.
Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Artikel für Artikel. Insgesamt sind es 6773 Zeichen, ohne die Präambel. Fotostrecke: So sieht es aus, wenn Buchstaben gestochen werden"Mir fällt nichts ein, wofür man sich zurzeit mehr einsetzen müsste, als für Menschenrechte", sagt Julie.
Allein an diesem Wochenende, an dem die Künstler von "Human Rights Tattoo" in Prag tätowieren, wird in Ankara ein Terroranschlag verübt, warten Zehntausende Flüchtlinge in Idomeni auf Hilfe der internationalen Gemeinschaft und wählt in Sachsen-Anhalt jeder Vierte die rechtskonservative AFD, deren Spitzenkandidaten im Wahlkampf einen Schießbefehl an Grenzen fordern.
Julie und den meisten Teilnehmern ist es egal, welchen Buchstaben sie zugeteilt bekommen. Das können sie auch gar nicht beeinflussen: Die Tätowierer gehen streng nach der Reihenfolge der Erklärung vor. "Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist etwas, wofür ich mich wirklich einsetzen möchte. Ich will sagen können, was ich will", sagt Julie.
Im Innern der Kunstgalerie haben die tschechischen Tätowierer Eva, Patrick und Mirek eine Ecke des Ausstellungsraumes in ein Tattoostudio umgebaut. Da stehen nun zwei folienbezogene Liegen, darüber grelle Neonstrahler.
"Evas Tätowiermaschine wurde beim Transport beschädigt und kann nicht eingesetzt werden", sagt Sander van Bussel, 45, Gründer und Leiter von "Human Rights Tattoo". "Wir müssen dringend noch eine Maschine auftreiben, sonst schaffen wir unsere 50 Tattoos heute nicht."
Schon seit 2012 organisiert Sander mehrmals im Jahr die Events, in Simbabwe und Buenos Aires, in den Niederlanden und in New York. "Wir wollen Menschen von so vielen Orten wie möglich mit diesem Projekt verbinden", sagt er. Auch, wenn das bedeutet, dass die meisten aus der Schlange vor der Galerie wieder ohne ein Tattoo nach Hause gehen müssen.
Julie hat ein "W" bekommen, sie will es in verschnörkelter Schreibweise hinter dem Ohr tragen.
Das Projekt finanziert sich durch freiwillige Spenden der Teilnehmer, durch Sponsoren wie "Amnesty International" oder lokale Unterstützer in den Ländern, in denen sie tätowieren.
Buchstaben zu stechen, sei ihr sonst viel zu langweilig, sagt Tätowiererin Eva, 21. Auch, wenn sie für ihren Einsatz kein Geld bekommt - nur die Materialkosten werden von den Organisatoren bezahlt - will sie unbedingt mit dabei sein. "Ich finde, das Recht auf Individualität ist auch ein Menschenrecht. Niemand sollte wegen seines Aussehens beurteilt werden." In der tschechischen Gesellschaft seien Tattoos und Körperkunst noch immer verpönt.
Julies "W" ist fertig. Und sie ist euphorisch: "Ich bin so froh", sagt sie. Weltweit haben sich bereits mehr als 2897 Menschen tätowieren lassen, bis Artikel 17 ist das Team schon gekommen. Auf der Webseite setzen die Organisatoren die Tattoo-Bilder fortlaufend zusammen, sodass sich die Erklärung ergibt.
Darum lassen sich Menschen Human-Rights-Tattoos tätowieren- die Fotostrecke gibts auf Bento (zum Original gehts unter dem Artikel)
Stunde um Stunde tätowieren Eva, Patrick und Mirek. Ein befreundeter Künstler bringt am Nachmittag eine weitere Maschine vorbei, sodass sie mittlerweile an zwei Liegen zugleich arbeiten können. Der dichte Desinfektionsnebel in der Luft vermischt sich allmählich mit dem Schweiß der Tätowierer, eine Mischung, die Kopfschmerzen bereitet. Vor den Fenstern der Galerie wird es langsam dunkel.
"Ich habe keine Ahnung, ob 'Human Rights Tattoo' etwas bewirken kann", sagt Sander van Bussel. "Aber jeder, der hier mitmacht, zeigt, dass Menschenrechte ihm nicht gleichgültig sind." Und dennoch: "Die Flüchtlingskrise zeigt uns, dass wir noch immer hart daran arbeiten müssen, die Menschenrechte aus der Erklärung für alle Menschen umzusetzen."
Er zählt jetzt die Spenden des Tages, es sind nur 300 Euro. Kaum genug, um Eva, Patrick und Mirek die verbrauchten Materialien zu bezahlen. "Vielleicht versuchen wir es bei unserem nächsten Event doch mit Crowdfunding", sagt Sander. Sie hätten eine Einladung von den Veranstaltern der Gay Pride in Istanbul, die im vergangenen Jahr gewaltsam von der Polizei aufgelöst wurde. "Da wollen wir wirklich gern hin." Bis die Erklärung fertig tätowiert ist, werde es noch etwa fünf Jahre dauern. Heute ist das Team dem Ziel um 57 Buchstaben näher gekommen.