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Ideensuche für Fukushima

Tatjana Kennedy

„Ich war zu Hause und hatte plötzlich riesige Angst. Alles fing an zu wackeln, die Schränke stürzten um und dann kam das Wasser ..." Der 16-jährige Taiga Yamaguchi wird still, als er an die Ereignisse vom 11. März 2011 im Nordosten Japans denkt. Die Dolmetscherin fragt vorsichtig nach, und Taiga erzählt weiter: Es waren Schulferien und er war in seiner Heimatstadt in der Präfektur Iwate, nicht weit vom Meer entfernt. Von dort rollte die gigantische Tsunami-Welle, ausgelöst durch ein Beben der Stärke 9,0, auf die bewohnte Küste zu und riss Menschen, Autos und ganze Häuser mit sich. Über 18 000 Menschen starben bei der Katastrophe. Südlich von Taigas Heimat wurde das Atomkraftwerk Fukushima Daiich i getroffen. Es kam zu Kernschmelzen in mehreren Reaktoren, große Mengen Radioaktivität wurden freigesetzt, hunderttausende Anwohner mussten die Gegend verlassen.

Der Tag der Dreifach-Katastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Reaktorunfall liegt mittlerweile über vier Jahre zurück. Taiga, der Schüler, der an dem Tag großes Glück hatte, ist gerade in Deutschland zu Besuch. In einem Hinterhof in der Kreuzberger Fichtestraße sitzt er ganz entspannt gemeinsam mit fünf weiteren japanischen Schülern auf zwei langen Bierbänken. Auch die gleichaltrigen deutschen Jugendlichen, bei denen die Japaner während ihres Aufenthaltes leben, sind dabei. Vor ihnen auf dem Tisch stapeln sich belegte Brötchen auf Tellern, es wird gekichert und geflüstert.

Die Schüler wurden in einem aufwendigen Prozess ausgewählt

Die kleine Gruppe der Jugendlichen ist für neun Tage vom Verein Kizuna-in-Berlin nach Berlin eingeladen worden. In ihren Oberschulen wurden sie in einem aufwendigen Prozess für die Reise ausgewählt. Ausschlaggebend war die Motivation der Schüler, hier Erkenntnisse und Erfahrungen für den Wiederaufbauprozess in ihrer Region zu gewinnen. Die Robert-Bosch-Stiftung finanzierte die Flüge, Berliner Privatpersonen kamen für weitere Kosten auf.

Der stellvertretende Vorsitzende des Vereins Frank Brose organisiert den Schüler-Besuch, der dieses Jahr zum dritten Mal stattfindet. „Unsere Erfahrung zeigt, dass die Jugendlichen wirklich viele gute Ideen für den Aufbau daheim mitnehmen." Brose erwähnt den Bau eines Gemeinschaftshauses in der stark zerstörten Region Rikuzentakata, ein Wiederaufforstungsprojekt und die Errichtung einer Werkstatt für Behinderte. „In Berlin haben wir viele tolle Einrichtungen und Projekte, die eine Inspiration für die Schüler sein sollen."

Berlin ist viel grüner, finden die Schüler

Der 61-Jährige plant für die Schüler unter anderem Besuche der Berliner Tafel, der Werkstätten für Behinderte und viele Workshops und Diskussionsrunden, in denen sich die Japaner mit deutschen Jugendlichen zu verschiedenen Themen, Zukunftsvisionen und Lebensrealitäten austauschen können.

„Hier in Berlin ist alles so grün, so viele Menschen fahren Fahrrad. Das ist bei uns ganz anders", sagt Issei Yao. Die 16-jährige Yurie Nagao nickt: „Und so viele verschiedene Kulturen an einem Platz, das gab es bei uns nur in der Zeit, als die ausländischen Hilfsteams da waren."

Sie wünschen sich, dass in ihren mittlerweile großteils wieder aufgebauten Städten mehr selbstbestimmte Projekte wie in Berlin entstehen. Es soll einfach ein bisschen weniger grau werden, finden sie. Deutschland und Berlin seien gute Vorbilder. Es sei hier eigentlich ziemlich so, wie sie es sich zu Hause vorgestellt hatten. Nur nicht ganz so streng, wie sie dachte, seien die Deutschen. „Meine Eltern sagten, dass hier alle penibel Wasser und Strom sparen und ich nicht länger als 5 Minuten duschen dürfe", sagt Yurie und lacht. „Aber das stimmt gar nicht, alle sind total locker und nett!"

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