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Coronavirus: Liberté fühlt sich anders an

Auf dem Vorplatz der Pariser Börse sitzen elegant gekleidete Banker und Broker auf dem Bordstein und kämpfen mit Salatverpackungen und Papierservietten im Frühlingswind. Mittagessen im Bistro - das ist in Paris immer noch tabu. Aber seit dieser Woche dürfen die Menschen wieder in ihre Büros gehen und sich mehr als einen Kilometer von ihrer Wohnung entfernen, sogar andere Menschen treffen. Allerdings bleiben bis Juni alle Restaurants und Cafés der Stadt mindestens noch geschlossen, auch die Grünflächen mit ihren Picknicktischen und Sitzbänken sind weiterhin abgesperrt.

Auf dem Bordstein sitzt auch Jihane, 25, im Schneidersitz und isst einen To-Go-Salat. Zum ersten Mal seit zwei Monaten habe sie die Wohnung für etwas anderes als die Nahrungsbeschaffung verlassen. "Ich komme von einem Termin bei der Handelskammer", sagt Jihane. "Ich will eine Bar aufmachen." Inmitten der Krise? Allen Ernstes? "Die Gewerbemieten fallen. Ich warte noch ein bisschen, dann schlage ich zu", sagt Jihane. Eilig habe sie es mit dem Vorhaben nicht. "Es kommt eh eine zweite Welle."

Fast 7.000 Menschen sind im Großraum am Virus gestorben. Noch immer werden täglich mehrere Hundert Neuerkrankungen gemeldet. Auch eine Freundin von Jihanes Mutter habe auf der Intensivstation gelegen. Erst wenn das Virus irgendwann wirklich weg sei, werde sie die Bar eröffnen. Dann wolle sie ihr Lokal in gelb und blau streichen und ganz dem Thema Gesellschaftsspiele widmen. "Geselligkeit, danach werden sich die Leute am meisten sehnen", sagt Jihane.

Menschen begegnen sich mit untypischem Respekt

Nach Geselligkeit sehnt sich auch Phung, die wenig entfernt eine Mischung aus Kioskbude, Crêperie und vietnamesischem Imbiss betreibt. Ihre wichtigsten Kunden sind Touristen und Geschäftsleute, an beidem fehlt es aber noch. Wirtschaftlich ergebe es überhaupt keinen Sinn für sie, den Laden zu öffnen, sagt Phung. Aber sie habe aus Langeweile wieder aufgemacht. "Ich konnte nicht mehr zu Hause rumsitzen."

Hinter ihrem grünen Imbisswagen tut sich der gewaltige Boulevard Haussmann auf, der Ende des 19. Jahrhunderts von den Baumeistern des Hygienismus seine heutige Gestalt bekam - damals war Cholera das große Thema. Auf der Straßenecke steht eine Leuchtanzeige. "Seien Sie vorsichtig", steht dort. "In der Metro herrscht Maskenpflicht. Am Kanal Saint-Martin und am Seine-Ufer ist der Verzehr von Alkohol verboten." Und: "Luftverschmutzung - niedrig."

Wären nicht die Angst vor dem Virus und die Existenzsorgen, könnte man das Leben in Paris gerade angenehmer finden als sonst. Die Luftqualität ist so gut, wie die meisten es hier noch nicht erlebt haben dürften. Fahrradfahren ist nicht mehr lebensgefährlich. Mit untypischem Respekt gehen sich Passanten aus dem Weg, lassen einander viel Platz in der Metro und an der Supermarktkasse. Die meisten Menschen tragen auch auf der Straße eine Gesichtsmaske, obwohl dies nicht vorgeschrieben ist.

Verunsicherung das vorherrschende Lebensgefühl

Mit zwei Basketbällen ausgestattet steht Romain mit seinen beiden Söhnen Come, 10, und Leonardo, 6, vor einem kleinen Sportplatz im Viertel von Les Halles. Ernsthaft abgesperrt ist dieser nicht mehr, aber an der Seite stehen die Bauzäune noch da, mit der die Stadt das Gelände behelfsmäßig verbarrikadiert hatte. Die Szene spiegelt das aktuelle Lebensgefühl wider: Darf man schon oder nicht? Eine Gruppe Jugendlicher beantwortet die Frage mit den Füßen und entert den Platz.

Während seine Söhne zum ersten Mal wieder dribbeln, erzählt Romain von seinen Entdeckungen der vergangenen Tage. Die Kirche Saint-Eustache sehe ohne die üblichen Menschenansammlungen wirklich schön aus. Im Himmel über Paris können Wolken mit Konturen auftauchen. Selbst im zweiten Arrondissement von Paris könne es im Frühling nach Blumen duften. Das Leben als Familie zwischen Homeoffice und Homeschooling sei aber weiterhin ziemlich anstrengend.

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