Die Pandemie stellt Jean Rottner, Notarzt und Politiker der konservativen Partei Les Républicains, vor die größte Herausforderung seiner Karriere. Als Präsident der Region Grand Est, die im Wesentlichen aus dem Elsass und Lothringen besteht, ist er seit einem Monat im Krisenmodus. Knapp 2.000 Menschen sind hier bereits an Covid-19 verstorben und damit fast so viele wie in ganz Deutschland - und das obwohl dort nur 5,5 Millionen Menschen leben.
ZEIT ONLINE: Herr Rottner, Gottesdienste, eine Fahrradtour, sogar Spazierengehen - all das ist in Frankreich momentan verboten. Wie werden sie Ostern verbringen?
Jean Rottner: Ich werde natürlich arbeiten, aber am Ostersonntag will ich auch ein bisschen abschalten. ist für mich persönlich ein wichtiges Fest. Wir werden im engsten Kreis unserer Familie feiern, mit allen, die nicht bei uns sind - eine meiner Töchter und meine Eltern, die anderswo in Frankreich leben, werden wir uns zum Aperitif auf Skype treffen, wie wir es sonntags schon seit ein paar Wochen machen.
ZEIT ONLINE: Alle fragen das momentan: Wann wird die Lage endlich besser?
Rottner: Wir befinden uns am Scheitel der Epidemiekurve. Seit dem 2. April sind wir auf dem jetzigen Level angekommen und damit lässt der Druck langsam nach: Die Zahl der Menschen, die in die Notaufnahmen kommen, ebenso wie die Zahl der Neuinfektionen. Auch die Lage bei den Intensivbetten wird etwas besser. In einzelnen Krankenhäusern gibt es noch Engpässe, aber wir können jetzt in der Regel auf freie Betten in anderen Regionen ausweichen.
ZEIT ONLINE: Heißt das, die schlimmsten Zeiten sind ein für alle Mal vorbei?
Rottner: Wir fürchten natürlich, dass die Infektionszahlen wieder nach oben schnellen, wenn die Ausgangssperren nun weniger ernst genommen werden könnten. Oder weil die Herdenimmunität, die wir inzwischen erreicht haben, doch noch nicht ausreicht. Wir müssen erst verstehen, wie wir aus dieser Krise möglichst gut wieder herauskommen können. Wenn wir wirklich erreichen wollen, dass die Zahlen fallen, hilft nach jetzigem Wissensstand nur die Ausganssperre.
ZEIT ONLINE: Stand Freitag sind in Ihrer Region Grand Est rund 1.800 Menschen am Coronavirus gestorben. Die Sterberate liegt damit um ein Vielfaches höher als jene in Deutschland. Wie erklären Sie sich das?
Rottner: Es gibt da einen Unterschied, der vergleichbar mit der Situation in Südkorea ist: Es gab in Mulhouse eine religiöse Veranstaltung mit etwa 2.000 Personen, die eine knappe Woche zusammen verbracht haben. Das war ein regelrechter Brutkasten für das Virus, das sich von dort rasant verbreitete. Und das ist der Grund, warum die ganze Region Grand Est, vor allem das Elsass, so hart getroffen ist.
ZEIT ONLINE: Sehen Sie auch Defizite im Gesundheitswesen, die die Lage zusätzlich erschwert haben?
Rottner: Deutschland hat auf die Bevölkerung hochgerechnet deutlich mehr Intensivbetten als Frankreich. Und es gibt noch einen zweiten wesentlichen Unterschied: In Deutschland liegt das Krisenmanagement allem voran bei den Bundesländern, die je nach Infrastruktur und Anforderung flexibel reagieren können. Bei uns ist es der Zentralstaat, der seine regionalen Gesundheitsagenturen instruiert. Ich würde mir mehr Kompetenzen für die Regionen und Kommunen wünschen.
ZEIT ONLINE: Sie haben zu Beginn der Corona-Krise selbst in einem Krankenhaus in Mulhouse in der Notaufnahme mit angepackt, das schon vor der Krise über viel zu wenig Personal und Mittel klagte. Hat Frankreich sein Gesundheitssystem heruntergewirtschaftet?
Rottner: Ich kritisiere schon lange die strukturellen Defizite der Krankenhäuser in Frankreich. Ein Grund dafür ist die Einführung der 35-Stunden-Woche (zwischen dem Jahr 2000 und 2002, Anm. d. Red.). Dies hat den Berufsstand sehr verändert. Heute sagen sich die Ärzte und anderen Angestellten im Krankenhaus: Ich arbeite meine Stunden ab und gehe dann nach Hause. Ich möchte nicht alt und blasiert klingen, aber als ich den Beruf lernte, haben wir mit den Überstunden nicht aufgehört und wir waren froh darüber. Wir waren allein von dem Lebensgefühl, Arzt zu sein, sehr beseelt. Die 35-Stunden-Woche hat die französischen Krankenhäuser sehr getroffen. Hinzu kamen dann noch Budgetprobleme und eine zu rigide Sparpolitik. Und trotzdem: In der Corona-Krise bin ich von der Leistung all derer, die im Gesundheitsbetrieb arbeiten, beeindruckt. Sie alle krempeln die Ärmel hoch, suchen nach Lösungen, organisieren sich neu. Einige, die den Beruf schon verlassen haben, kommen jetzt zurück, packen mit an und fragen nicht danach, was morgen ist. So muss es weitergehen.
ZEIT ONLINE: Eine deutsche Ärztedelegation hat aus Straßburg berichtet, dass dort Menschen über achtzig nicht mehr gerettet werden, wenn die Intensivbetten nicht ausreichen. Die Krankenhausleitung dort hat das eher halbherzig dementiert. Was sagen Sie zu diesen Berichten?
Rottner: An der medizinischen Einstellung, die wir auch sonst haben, hat sich nichts verändert. Jeden Tag müssen Ärzte im Kollegium entscheiden, wer auf die Intensivstation kommt und wer nur noch mit Palliativmaßnahmen begleitet wird. Die essenzielle Frage ist heute, ob unsere Kliniken genug Kapazitäten haben, um allen Menschen, die eine valide Überlebenschance haben, auch eine Intensivbehandlung zu ermöglichen. Ob die Patienten 75, 90, 80 oder 45 sind, ist hier aber nicht die entscheidende Frage - sondern die Abwägung, ob die Intensivbeatmung eine hohe Überlebenschance bietet oder eher nicht. Wenn ein 40-Jähriger eine Leberinsuffizienz hat, jemand an Hepatitis C oder an Diabetes leidet, fließt das natürlich in die Überlegungen mit ein. Aber bis dato sind alle Entscheidungen ausschließlich medizinisch motiviert, nicht von den Kapazitäten unserer Infrastruktur.
ZEIT ONLINE: Das heißt, die sogenannte Triage gibt es bis dato nicht?
Rottner: Sagen wir es so: Die Engpässe bei den Intensivbetten beeinflussen die Entscheidung in einem vernünftigen Rahmen. Nehmen Sie zum Beispiel eine an Corona erkrankte ältere Person, die in einem Pflegeheim lebt. Da fragt der Notarzt: Gibt es eine Patientenverfügung? Was sagt die Familie? Sollte man die Person wirklich noch im Krankenhaus aufnehmen, oder wäre es ratsamer, den Sterbeprozess im Pflegeheim zu begleiten? In allen anderen Fällen setzen wir im Fall von Engpässen in dem nahegelegenen Krankenhaus alles daran, Patienten in andere Regionen oder sogar ins Ausland zu verlegen. Unser ganzes Krisenmanagement zielt darauf ab, solche Entscheidungen zu vermeiden.
ZEIT ONLINE: Wer steht den Ärztinnen und Ärzten, den Pflegerinnen und Pflegern bei solchen Entscheidungen bei?
Rottner: Zunächst einmal werden all diese Entscheidungen im Kollektiv getroffen, damit man nicht allein, sondern innerhalb eines Teams eine gemeinsame Haltung finden kann. Zudem wurde ein psychologischer Dienst eingerichtet, der alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krankenhäusern, egal ob aus dem medizinischen oder technischen Bereich, unterstützt.
ZEIT ONLINE: Gibt es für Sie an diesem Osterfest auch Hoffnung?
Rottner: Dieses Wochenende ist für mich ein Wochenende der Hoffnung. In dieser ganzen Krise habe ich mich noch nie niedergeschlagen gefühlt, sondern im Gegenteil: kämpferischer als je zuvor. Wir sehen gerade ein Wiedererstarken des Bürgersinns und der Solidarität. Schauen Sie doch nur darauf, was zwischen unseren Ländern passiert! Anfangs gab es noch andere Töne, aber jetzt erleben wir eine unerwartete Solidarität seitens der Schweiz, Deutschlands, Österreichs, Luxemburgs. Das hat uns wieder Raum zum Atmen verschafft. Sie können sich das Lächeln im Gesicht meines Nachfolgers in der Notaufnahme von Mulhouse, Marc Noizet, nicht vorstellen, als er erfuhr, dass nun viele Patienten in andere Krankenhäuser, auch im Ausland, verlegt werden können. Es hat ausgedrückt: Wir werden gesehen, man hilft uns, damit wir unsere Arbeit machen können.