Rot-Weiß Erfurt verschenkt Eintrittskarten an die Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft. Der Klub will zur Willkommenskultur beitragen und trotzt fremdenfeindlichen Kommentaren einiger Fans.
Erfurt. "Los, komm schon!", ruft Darko Stojadinovich. "Das ist zu langsam. Er muss schneller spielen", entfährt es seinem Vater Dragan. Das Duo kommentiert fast jede Aktion auf dem Rasen fachmännisch, als wären sie im Steigerwaldstadion Dauergäste. Aber die Stojadinovich' sehen zum ersten Mal live deutschen Drittliga-Fußball. Sie müssen im Stadionheft nachschlagen, um den Namen des Erfurter Kapitäns Carsten Kammlott zu finden, und dass die Winterpause Anfang Februar zu Ende ging, verrät ihnen der Reporter. Wie 23 andere Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft im Südosten der Stadt hat der FC Rot-Weiß Erfurt die beiden Serben am Samstag zum Heimspiel gegen den SV Wehen Wiesbaden eingeladen. "Wir möchten mit unseren Freikarten einen Beitrag zur Willkommenskultur leisten", sagt André Ockenfels, Leiter des Bereiches Organisation und Strategie beim Klub. "Denen, die es sich sonst nicht leisten können, soll ein Stadionbesuch ermöglicht werden", betont der 53-Jährige.
Von der Unterkunft in der Scharnhorststraße, in der 48 Menschen aus Mazedonien, Albanien, Serbien und Kosovo seit einigen Wochen einen Teil der früheren Regelschule bewohnen, sind es zu Fuß rund 30 Minuten bis zum Spielort. Während dort die ersten Fans ihre Plätze besetzen und Polizisten wachsam die Lage beobachten, sammeln sich die Flüchtlinge auf dem Schulhof. Andrew Aris und Sven Soederberg vom Erfurter Verein "Spirit of Football" holen sie mit drei Mitstreitern ab. Sie spielen den Kindern Bälle zu, machen Scherze, sorgen für lächelnde Gesichter.
Etwas Anspannung liegt dennoch in der Luft. Nach dem Bekanntwerden der Freikartenaktion erntete der FC Rot-Weiß viel Zuspruch – aber auch Kritik und hasserfüllte Kommentare. Deswegen sollen die Flüchtlinge das Spiel nun im Familienblock auf der Tribüne verfolgen und nicht wie ursprünglich vorgesehen im Stehplatzbereich, wo Problemfans für Ärger sorgen könnten.
Sie wissen, dass ihnen manche Deutsche feindselig gegenüberstehen, spüren die bösen Blicke und meiden öffentliche Spielplätze in der Umgebung. Keine 500 Meter entfernt von ihrer Unterkunft im Plattenbaugebiet "Herrenberg" liegt die Kammwegklause, ein bekannter Nazitreff mit schwarz-weiß-roter Fassadenbemalung. Aber von den Diskussionen im Vorfeld des Fußballspiels ahnen sie nichts. "Wir freuen uns über die Einladung", sagt Qamil Selmani gut gelaunt. Der 36-Jährige ist mit seiner Frau und den vier Kindern aus Kosovo nach Deutschland geflohen. Während er sich mit Händen und Füßen sowie ein paar Brocken Deutsch verständigt, übersetzt die älteste Tochter Eliona (13) ins Englische. Die Familie erhofft sich in Deutschland eine bessere Zukunft. "Keine Arbeit, keine Schule, nichts", beschreibt der Familienvater die Situation in der Heimat.
Sozialpädagogin Christiane Zimmermann von "Mitmenschen e.V." betreut mit zwei Kollegen die 14 Familien. Sie sagt: "Wer alles zurücklässt und sich in der Fremde eine neue Identität aufbaut, dem kann es so gut nicht gegangen sein." Einige hätten schlimme Dinge erlebt.
Frauen mit Kinderwagen, Kinder, Jugendliche und Männer setzen sich in Zweier- und Dreierreihen in Bewegung. RWE-Schals wärmen, Eliona Selmani lässt mit ihrer Schwester und einer Freundin lachend eine Vereinsflagge hinter sich im Wind flattern: Ihr Vater zückt das Smartphone für ein Foto. Während sie sich dem Stadion nähern, ruft Andrew Aris angespannt: "Wir müssen alle zusammen bleiben." Der bärtige Neuseeländer, der seit vielen Jahren Fußballworkshops und Bildungsprojekte an Schulen durchführt und durch seine WM-Pilgerreise "The Ball" bekannt wurde, engagiert sich mit "Spirit of Football" einmal pro Woche in der Flüchtlingsunterkunft. "Die haben sich so gefreut, dass wir da waren und etwas mit ihnen gemacht haben, dass sie einfach mal Fußball spielen konnten", sagt Aris.
Eine Gruppe Bier trinkender Stadionbesucher erkennt die Flüchtlinge, als sie über den Parkplatz Richtung Haupteingang laufen, und gibt nach Mimik und Gestik zu urteilen keine Nettigkeiten von sich. Es bleibt am ganzen Nachmittag die einzige wahrnehmbare negative Reaktion.
Vor dem Eingang werden sodann die letzten Karten verteilt, gleich ist Anstoß. Die Gäste nehmen am rechten Rand des Familienblocks Platz, auf der anderen Seite der Tribüne machen die Erfurter Ultras lautstark Stimmung. Dragan Stojadinovich studiert aufmerksam das Stadionheft. Sein Sohn, ein talentierter Mittelfeldspieler von kleiner Statur mit auffällig grünen Augen, hat einige Partien in der zweiten russischen Liga und für den tschechischen Verein Sigma Olomouc bestritten. "Vielleicht stehe ich da unten irgendwann auf dem Rasen", sagt der 24-Jährige selbstbewusst.
Heute hätte Rot-Weiß tatsächlich Verstärkung nötig gehabt: Nach 27 Minuten liegt der zweimalige DDR-Meister durch einen Elfmeter 0:1 hinten, kurz vor der Pause fällt das 0:2. Die ausländischen Besucher leiden mit, schlagen die Hände über den Köpfen zusammen, machen abwehrende Handzeichen. "Die fiebern mit, die bangen mit", sagt Rot-Weiß-Fan Anne-Katrin Wust. "Ich finde es eine tolle Aktion vom Verein." Sie habe aus ihrem Umfeld keine negativen Reaktionen erfahren.
Dennoch sind die Fremdenfeinde ganz nah. Der Klub distanzierte sich via Facebook ausdrücklich von Anhängern, welche die Freikartenaktion verunglimpft hatten. André Ockenfels sagt: "Auch bei offenen Protesten hätten wir das durchgezogen. Wir müssen Flagge zeigen." Zu jedem Heimspiel würden Benachteiligte eingeladen. Nicht nur Flüchtlinge, wie nun manche unwissend beklagten.
Auch nach der Pause kann RWE das Spiel nicht an sich reißen, die kleine Anisa weint auf dem Schoß von Christiane Zimmermann, nachdem Pfiffe und Schreie lautstark eine schlechte Aktion begleiten. 0:2 heißt es am Ende. "Die Atmosphäre war schön. Schade, dass Erfurt verloren hat", meint Qamil Selmani. Seine Töchter sitzen brav neben dem Vater, weiter vorne haben sich zwei Jugendliche in ihre rot-weißen Fahnen eingewickelt, obwohl die Sonne für frühlingshafte Temperaturen sorgt.
Dragan Stojadinovich hat sich ebenfalls willkommen gefühlt, für ihn geht das Ergebnis aber in Ordnung. "Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man. Das ist Sport", sagt der 46-Jährige. Sein Sohn hat schon einen neuen Klub gefunden: den 1. FC Lokomotive Erfurt. Dreimal hat Darko bereits mittrainiert, der Trainer soll angetan sein, der Spielerpass dürfte in den nächsten Wochen eintreffen. Ob der Serbe über diese Saison hinaus für den abstiegsbedrohten Kreisoberligisten auflaufen kann, ist ungewiss. Er kommt wie die übrigen Bewohner der Scharnhorststraße aus einem "sicheren Drittstaat". Die Abschiebung droht.