München/Leipzig. Vor der Hauptversammlung machten die um ihre Jobs bangenden Siemensianer noch einmal kräftig Rabatz: In Leipzig-Plagwitz ließen gestern früh 240 Mitarbeiter Hunderte Luftballons steigen, um den Aktionären in München einen Gruß zu schicken. Vor der Olympiahalle, wo 90 Minuten später die Hauptversammlung startete, protestierten dann 250 Kollegen. Aus Görlitz waren sogar 35 Beschäftigte per Fahrrad angereist - und wurden direkt vor der Versammlung überraschend von Konzernchef Joe Kaeser empfangen. „Damit hatten wir selbst nicht gerechnet", sagte einer der Teilnehmer.
Für Görlitz brachte Kaeser dann sogar eine mögliche Lösung ins Spiel. Man erwäge ein „Industriekonzept Oberlausitz", sagte er. Vorstellbar wäre etwa, dass das Turbinenwerk eigenständiger werde, dabei aber zunächst unter dem Dach von Siemens verbleibe. In einigen Jahren könnte der Standort dann in einem Industriecluster aufgehen. Um solche Erwägungen umzusetzen, bedürfe es allerdings der Mitwirkung der Bundes- und der Landesregierung sowie anderer Beteiligter, sagte Kaeser.
Vor den Aktionären verteidigte er dann den geplanten Stellenabbau in der Kraftwerkssparte und die Trennung von den Werken in Leipzig, Görlitz und Erfurt. „Behauptungen, dass unsere Werke in Offenbach, Erfurt, Mülheim oder auch Görlitz voll ausgelastet und sogar profitabel seien, sind ein Mythos oder Stimmen aus vergangenen Zeiten", sagte er.
Kaeser äußert sich nicht zu LeipzigUnterstützung bekamen die um ihre Jobs kämpfenden Mitarbeiter dann von ganz unerwarteter Seite: von den Aktionären. „Stellenabbau muss das letzte Mittel sein", sagte Aktionärsschützerin Daniela Bergdolt von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz. „Ich möchte Sie gerne in die Verantwortung nehmen: Suchen Sie eine andere Lösung." Auch Fondsmanager Ingo Speich von Union Investment mahnte die Siemens-Führung, nicht leichtfertig komplette Standorte zu schließen. „Siemens muss nicht nur Rendite liefern, sondern auch seiner gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen."
Erst jüngst hatte Kaeser den Beschäftigten in Ostsachsen Hoffnung gemacht. „Wir werden Görlitz nicht fallen lassen", sagte der Siemens-Chef am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos. „Wir werden diesen Menschen helfen, wir geben ihnen eine Zukunft." Bei einem Abendessen mit US-Präsident Trump in Davos hatte er zudem angekündigt, eine neue Generation von Gasturbinen in den USA zu entwickeln. Die Äußerungen sorgten für Irritationen, unter anderem bei der IG Metall.
Für das vor dem Aus stehende Verdichterwerk in Leipzig gab es von Kaeser gestern keine Aussagen. Leipzigs Betriebsratschef Thomas Clauß wollte sich davon nicht entmutigen lassen. Die Verhandlungen über den Stellenabbau hätten ja noch nicht einmal begonnen. Erst vor einer Wochen gab es erste Sondierungsgespräche. In den Verhandlungen will der Betriebsrat dann ein eigenes Konzept für den Standport vorlegen. „Und damit kommen wir gut voran."
Von Christine Schultze und Frank Johannsen
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