Die Rocky-Treppe, sie will bezwungen werden, und zwar im Laufschritt. Emilou Richardson reißt die Arme hoch, als sie die 72 Stufen vor dem Philadelphia Museum of Modern Art geschafft hat und dreht sich um. "Yo, Philly, I did it!", brüllt die Mittdreißigerin in den eisigen Wind.
Vor ihr, irgendwo im Winterdunst, liegt das viktorianische Rathaus der Stadt. Dass sie es nicht sehen kann, stört die Besucherin aus Boston nicht. Im Gegenteil: "Das muss doch so sein. Das ist Rocky-Wetter", sagt sie und geht die Stufen zur berühmten Rocky-Statue herab, um schnell noch ein Selfie mit dem drei Meter hohen Bronze-Koloss zu machen.
Seit Rocky Balboa, verkörpert von Sylvester Stallone, in dem Boxerdrama von 1976 bei identischer Wetterlage die Museumsstufen hinaufrannte, profitiert Philadelphia vom berühmtesten Sohn der Stadt, der niemals lebte. "Willkommen im Rocky-Land", so begrüßt im Film der Boxkommentator die Zuschauer, und das könnte auch für Philadelphia gelten: Jährlich besuchen Zehntausende die Drehorte der mittlerweile achtteiligen "Rocky"-Filmreihe. Das jüngste Sequel, "Creed 2", wird am 24. Januar in den deutschen Kinos starten - und ist wohl das letzte mit Stallone.
In Philadelphia essen Fans Pasta in Rockys Restaurant Adrian's, das in Wirklichkeit Victor Café heißt und auf der Dickinson Street liegt. Oder bestellen ein Philly Cheese Steak bei Pat's King of Steaks in South Philadelphia, wo auch einst Stallone ein Exemplar vertilgte. Oder sie shoppen im Italian Market rund um die 9th South Street, der durch den ikonischen Trainingslauf des Boxers weltberühmt wurde. Der Markt gilt als der älteste noch existierende Open-Air-Markt in den USA. Andere genießen am Schuylkill River Ausblicke auf die Skyline der Stadt. Mehrere Trainingssequenzen wurden an dem Fluss gedreht.
Vorteil für "Rocky"-Pilger: Viele Drehorte liegen nahe bedeutender Sehenswürdigkeiten in der 1,6 Millionenstadt an der US-Ostküste. Das historische Zentrum mit Liberty Bell und Benjamin Franklins Haus sind nur ein paar Blocks von Locations wie dem Rittenhouse Square oder der Liberty Hall entfernt.
Eine schicksalhafte Begegnung
Doch echte Fans zieht es auch in die weniger schicken Ecken in Rocky-Land. Weil South Philadelphia, Balboas Wohnviertel, schon bei den Dreharbeiten für den ersten Film vor über 40 Jahren zu gut in Schuss war, um eine Underdog-Kulisse abzugeben, filmte die Crew in Kensington. Ein Viertel im Norden der Stadt mit verlassenen Häusern, brennenden Mülltonnen und billigen Kneipen, in dem es heute noch viel härter zugeht als damals.
"Da wollen sie alle hin", sagt Mike Kunda, der seit acht Jahren "Rocky"-Jünger mit seinem Honda Odyssey durch die Stadt kurvt. Kunda sieht Stallone ziemlich ähnlich, spricht und bewegt sich wie seine Filmfigur und kennt allerlei kleine Insider-Geschichten. Die Faszination für die Filme kann er nachvollziehen. "Jeder denkt, in 'Rocky' gehe es ums Gewinnen", sagt er. Dabei stehe das überhaupt nicht im Vordergrund. Vielmehr gehe es darum, "nicht am Boden zu bleiben, wenn das Leben dich schlägt, sondern wieder aufzustehen".
Auch Kunda weiß, wie das geht. 26 Jobs habe er bereits verloren, sagt er. 2005 kam es dann zu einer schicksalshaften Zufallsbegegnung: mit Sylvester Stallone persönlich. Der Schauspieler vermittelte ihm die Idee, aufgrund seiner Ähnlichkeit als Rocky-Tourguide zu arbeiten. "Er meinte, die Leute werden das lieben", so Kunda.
Ein paar Fotos machen und weg hier
Und Stallone hatte recht: Kundas Touren sind nach eigener Aussage auf Monate ausgebucht. Wenn seine Kunden nach Kensington wollen, startet er vormittags. "Nach Einbruch der Dunkelheit will ich dort raus sein", sagt er. Als Kunda sein SUV durch den angrenzenden Stadtteil Fishtown steuert, wird klar, warum. Auf Höhe der Lehigh Avenue rahmen verfallene und verlassene Häuser die Straße, Obdachlose hausen in Zelten, schwangere Prostituierte warten am Straßenrand auf Kundschaft. Ein Ort ohne Zukunft.
In der East Tusculum Street brauchen Rocky-Fans starke Nerven. Hier, in Hausnummer 1818, hatte der Boxer im Film seine Wohnung - doch der Wiedererkennungswert ist gering. Der Putz der Hausfassade ist schon vor langer Zeit abgebröckelt, Müll säumt den Gehweg. Über der Straße hängen an einem Stromkabel mehrere Paar Turnschuhe, "von hier Ermordeten", sagt Kunda. Aussteigen, ein paar Fotos machen, weg hier.
Rockys kulturelles Erbe
Zehn Blocks südwestlich auf der North Front Street fühlt man sich wieder sicherer und wohler, doch die Abrissbirne ist auch hier Realität. Erst 2017 musste das Haus Nr. 2146, Adrian's Tierladen, dran glauben. "Sehr schade, denn es war die einzige Location, die tatsächlich war, was sie auch im Film verkörperte", sagt Kunda.
Im Gegensatz zum gegenüberliegenden Eckgebäude, das jeder "Rocky"-Fan sehen will: die Trainingshalle "Mighty Mick's Boxing Gym". Auch wenn nur die Fassade genutzt wurde, für Fans ist die Stätte heilig. Auch sie ist vom Abriss bedroht.
Doch vielleicht gibt es Hoffnung, wie Kunda erfahren haben will: Erst im April 2018 sei Sylvester Stallone hier gewesen und habe dem Besitzer ein Kaufangebot gemacht, um das Haus in ein Rocky-Museum zu verwandeln. Die Chancen stünden nicht schlecht, schließlich sorge sich Sylvester Stallone auf seine alten Tage um sein kulturelles Erbe. Das Teure sei jedoch nicht der Kauf des Gebäudes, sondern die Renovierung.
Aber wer weiß: Vielleicht springt ja auch die Stadt Philadelphia ein und beteiligt sich an den Kosten. Um ihren bekanntesten Sohn, der niemals lebte, zu ehren. Wie es Touristen schon seit Jahrzehnten tun.