In Münster geboren, aufgewachsen in Hagen, studiert in Hamburg, New York und Leipzig - und über ein Berliner Basketball-Team ein Buch geschrieben: Mit "Gentlemen, wir leben am Abgrund" hat der Schriftsteller Thomas Pletzinger 2011 die Korbjäger-Welt verzückt, nun erschien pünktlich zur neuen Saison die Taschenbuch-Ausgabe von Pletzingers Geschichte über ALBA Berlin.
In einer Spielzeit, die von Höhen und Tiefen, zwei Headcoaches, zahlreichen neuen Spielern und der "Beinahe-Meisterschaft" geprägt war, war der gelernte Romanautor hautnah dabei. Im Teambus, den Locker-Rooms, in den Hotels, hinter den Kulissen, bei den Physios und eben auch bei allen Partien einer nervenaufreibenden Basketball-Saison. "Ich wollte über Top-Level Basketball in Deutschland schreiben. Da ist Berlin natürlich eine sehr gute Adresse", erklärt mir Pletzinger beim Kaffee in der DB-Lounge des Frankfurter Hauptbahnhofs. Hier wohnt der Schriftsteller - zumindest fast. Viel Zeit verbringt der ehemalige aktive Basketballer in Wartesälen von Bahnhöfen und in Zügen, inmitten von hektischen Managern, Urlaubern, Backpackern und Pendlern. Aktuell befindet sich Pletzinger auf Lesereise. Für den Suhrkamp-Verlag hat er das Sachbuch "Die irgendwie richtige Richtung" von Gideon Lewis-Kraus ins Deutsche übersetzt. Eine Geschichte über einen Hipster, der drei Pilgerreisen unterschiedlicher Glaubensrichtungen unternimmt, um sich selbst und seine Familie zu finden.
Eine Parallele? Nein. Weder zu "Gentlemen, wir leben am Abgrund", noch zu Pletzinger selbst. Als Jugendlicher geht der Schreiberling begeistert in Hagen auf Korbjagd, trainiert mit dem Bundesligateam, lernt die Boxscores der NBA auswendig und verfolgt mit übernächtigten Augen die ersten Schritte des großen blonden Würzburgers in Übersee. Er hängt die Schuhe an den Nagel, studiert Literaturwissenschaft und Kunst und wird Schriftsteller. 2008 erscheint sein erster Roman mit dem Titel „Bestattung eines Hundes", 2010 packt ihn dann die Idee, ein Buch über Basketball zu schreiben, den Sport, den er liebt. "Die Seele des Spiels kann man nur greifen, wenn man wirklich dabei ist. Entweder ganz oder gar nicht", berichtet Pletzinger über die Anfänge und Entscheidungen. Wirkliche Zweifel hat er nicht, lediglich seine Frau schüttelt hier und da verständlicherweise den Kopf über den Plan, mit ALBA durch Deutschland und Europa zu reisen. Doch mit Unterstützung von Kiepenheuer & Witsch, seinem Verlag, gelingt dem heute 38-jährigen das, was bisher keinem (Sport-)Journalisten in Deutschland möglich war: Eine komplette Saison mit den Albatrossen in der Basketball Bundesliga.
Herzblut. Leidenschaft: Zwei Worte, die der Schriftsteller mit diesem Projekt voller Unwegbahrkeiten verbindet. Was wäre beispielsweise gewesen, wenn ALBA die Playoffs nicht erreicht hätte? Oder wenn die Playoffserien gegen Frankfurt oder Oldenburg der Saison und damit auch dem Buchprojekt ein jähes Ende bereitet hätten? "Drei Serien in den Playoffs über jeweils fünf Partien. Das ist für mich schon ganz gut gelaufen", lacht Pletzinger. Ausreichend Lesestoff für ein Buch mit über 15.000 verkauften Exemplaren.
Die zentrale Figur der Geschichte ist zweifellos Luka Pavicevic. Der damalige Headcoach der Berliner Basketballer gilt als moderner, aber gleichzeitig perfektionistischer Trainer. Nicht nur Jena-Cheftrainer Björn Harmsen sagt, dass viele Spielsysteme in der heutigen Küchengeräte-Liga auf Ideen des Serben zurückgehen. Zahlreiche Pick and Roll-Situationen, am und abseits des Balles. Eine Marotte, die Pletzinger vortrefflich in seinem Buch beschreibt: Zieht Pavicevic seine Anzugsjacke vor Spielende wieder an, ist die Partie entschieden. "Ich war wahnsinnig enttäuscht, als er damals beurlaubt wurde. Ich hatte Angst, dass mit der Kündigung auch mein Projekt scheitern würde", blickt er auf die Zeit mit ALBA zurück. Das fertige Buch konnte Pavicevic übrigens nicht lesen, die Sprache war eine nicht zu überspringende Hürde - Pavicevic trainiert mittlerweile in Frankreich.
Pletzinger hat als neutraler Beobachter begonnen. Als stiller Gast, als klassischer Journalist eben. "Aber von Spiel zu Spiel habe ich meine Objektivität Schritt für Schritt aufgegeben ", gibt er beim Milchkaffee aus der DB-Tasse zu. Außer Routinier Sven Schultze ist kein Albatros mehr im heutigen Kader des Serienmeisters. Ein normaler Prozess im Leistungssport, doch Pletzinger hat den Kontakt zu seinem "Team" nicht verloren. "Bryce Taylor ist ein feiner Kerl, aber kein Spieler für kleine Standorte", erklärt der Schriftsteller und Übersetzer den Wechsel des Vielfliegers nach München. "Einmal im Leben kommt ein goldener Wagen vorbei, einmal ein silbener und einmal ein bronzener ", zitiert Pletzinger Luka Pavicevic. „Man muss seine Chancen nutzen." Sven Schultze agierte bei der Buchvorstellung übrigens als Simultan-Übersetzer für Taylor. Nicht nur, dass die damaligen ALBA-Profis das Buch gelesen haben und immer noch in Kontakt sind, zeigt, wie eng die Verbindung zu diesem einmaligen Projekt ist. Mit Jungs wie Vizepräsident Henning Harnisch oder Pressesprecher Justus Strauven verbindet Pletzinger bis heute ein enger Kontakt. So schreibt Pletzinger immer noch regelmäßig für das ALBA-Jahrbuch über das Berliner Team. In der aktuellen Ausgabe dreht sich alles um die "jungen Wilden", die nächste Generation der Albatrosse. "Ismet Akpinar zum Beispiel ist unfassbar. Er saugt im Training alles auf wie ein Schwamm. Man kann ihm richtig beim Besserwerden zusehen. Er wird jede Menge lernen, nicht nur von Obradovic, sondern allein durch das tägliche Training auf diesem Niveau", schwärmt er vom kommenden Spielmacher der Berliner.
Zwei Fragen brennen mir in der DB-Lounge noch auf der Seele, bevor leckere Burger in der Frankfurter Innenstadt mit einem großartigen Menschen auf mich warten: War "Gentlemen, wir leben am Abgrund" von Beginn an der Titel des Buches? "Nein, aber als Luka diesen Satz gesagt hat, war mir klar, dass er eine wichtige Bedeutung haben wird. Der Arbeitstitel war allerdings immer "Second Chance Points", und es gab noch viel mehr Titelideen", berichtet Pletzinger, der das Buch übrigens in nur vier Monaten nach Saisonende vollenden musste. Und dann bleibt natürlich die Frage nach dem wütenden Bamberger Fan. Jener Anhänger der Brose Baskets, von dem Pletzinger in seinem Sachbuch erzählt. "Paul Neumann? Mit dem ist alles gut. Wir haben uns sogar schon mehrfach getroffen und ein Bier zusammen getrunken", lacht Pletzinger. Also gilt auch hier: Second Chance Points.
Text: Sven Labenz // Fotos: privat +++ Gewinnspiel +++ Parkettgeschichten verlost drei handsignierte Exemplare von "Gentlemen, wir leben am Abgrund" (Taschenbuch-Edition). Einfach folgende Frage beantworten und die Antwort per Mail an info@parkettgeschichten.de schicken - im Zweifel entscheidet das Los. Gewinnspielfrage: Welcher Trainer wurde direkter Nachfolger von Luka Pavicevic bei ALBA Berlin und kommt ebenfalls in Pletzingers Buch vor?