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Wohnraum für alle

Die frühere Residenz Colonel Avia in Paris, jetzt Studentenwohnheim (NZA Architectes) © Frédéric Achdou/Paris Habitat

Sozialer Wohnbau ist ein innerhalb der EU sehr unterschiedlich interpretiertes Thema. Wiewohl es grundsätzliches Einverständnis über dessen Relevanz gibt, geht das Engagement der einzelnen Staaten weit auseinander. Traditionell gilt die österreichische Sozialwohnbaupolitik als vergleichsweise beneidenswert.

Ein Vergleich, wie es in den unterschiedlichen EU-Ländern um den sozialen Wohnbau bestellt ist, gestaltet sich ähnlich schwierig wie bei Wein aus verschiedenen Anbaugebieten, auch wenn die Rebsorte die gleiche ist. Geografische und sozialpolitische Gegebenheiten, sozusagen Terroir und Charakter, spielen eine starke Rolle. Ein maßgeblicher Grund hierfür sind die vornherein sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen in den verschiedenen Ländern.
EU-weite Diskussionen, internationale Konferenzen und regionale Eigenheiten bezüglich der Wohnungsfrage stehen permanent auf der Agenda von Politik- und Sozialausschüssen. Es werden Workshops und Studien durchgeführt, zu denen Teilnehmer aus Städten, Regionen, Mitgliedstaaten, EU-Dienststellen sowie aus dem Rechtsbereich und diversen Initiativen für bezahlbaren Wohnraum beitragen. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist stets, wie sich die aktuellen EU-Vorschriften auf öffentliche Investitionen in bezahlbaren Wohnraum niederschlagen. Das Zusammenspiel von EU-Vorschriften und nationalen Regulierungen hat zur Folge, dass sich nicht alle Beschlüsse gleich stark auswirken.


Komplexe Thematik
Damit ist das Spektrum umrissen. Fundierte Daten und Zahlen finden sich in umfang­reichen wissenschaftlichen Publikationen zum Thema. Im November 2020 wurde der Report „Housing Policies in Europe“ auf einer Konferenz in Brüssel vorgestellt, verfasst zur Unterstützung der deutschen Ratspräsidentschaft der Europäischen Union in der zweiten Hälfte des Jahres 2020. Darin wird ein Überblick über die unterschied­lichen Programme der nationalen Wohnungspolitiken in den EU-Mitgliedsstaaten gegeben, zudem Einsichten über das Zusammenspiel von Märkten, Regulierungen und politischen Instrumenten im jeweiligen nationalen Kontext. Auch die Verantwortlichkeitsbereiche für die Wohnungspolitik variieren in den EU-Mitgliedsstaaten und verteilen sich auf verschiedene Regierungsebenen.  „Vielfalt ist der perfekte Begriff, um zu beschreiben, wie die EU-Mitgliedsstaaten im Bereich der Wohnungspolitik organisiert sind“, heißt es in „Housing Policies“.
„Die Thematik ist sehr komplex“ konstatiert auch Wolfgang Amann, Geschäftsführer des Instituts für Immobilien, Bauen und Wohnen, der als nationaler Experte zur Studie beigetragen hat. „Es gibt immer wieder Versuche, die Performance von wohnungspolitischen Systemen zu vergleichen, was aber extrem schwierig ist, weil allein schon die politischen Zielsetzungen unterschiedlich sind. Was man aber schon beobachten kann, ist die Überlegenheit einiger Länder bezüglich Kosten, Ausstattung und Wohnzufriedenheit. Hier punkten Österreich, die Niederlande, Schweden und Dänemark.“


Unterschiedliche Zuständigkeiten

Um einen Überblick zu erlangen, braucht es zunächst eine Vergleichsbasis, um nachzuvollziehen, wo welche Verantwortungsbereiche überhaupt angesiedelt sind, bzw. welche Änderungen es gab – etwa, wenn eine wesentliche Aufgabe von einer verwaltungspolitischen Einheit zu einer anderen umverteilt wurde. Oder wenn einem Referat Zuständigkeiten entzogen wurden, zum Beispiel wenn die Mietpreisbremse komplett gestrichen oder der öffentliche Wohnungsbau privatisiert wurde. All diese Aspekte finden sich in der erwähnten Studie. Darin gewinnt man einen Eindruck, wie unübersichtlich der gesamte Bereich sich gestaltet. Für eine Beurteilung gilt es etwa, Veränderungen bezüglich horizontaler und vertikaler Verteilung von Verantwortlichkeiten zu beachten, will man ein Verständnis des Gesamtbildes erlangen. Ungeachtet dieser teils gravierenden Unterschiede ist für einen praktischen Vergleich jedoch die Umsetzung wichtig, also die tatsächlich gebauten und zur Verfügung stehenden Wohnungen sowie deren Finanzierbarkeit.„Es stellt sich heraus, dass in vielen Ländern die Organisation der Wohnungspolitik recht gut mit der Gesamtstruktur des Landes übereinstimmt, obwohl es auch einige bemerkenswerte Ausnahmen gibt", heißt es in der Studie. Die Autoren kommen zum Resümee: „Wohnungspolitik entspricht im Allgemeinen, zumindest auf lokaler Ebene, der typischen Machtverteilung in jedem Land. Somit unterscheidet sich die Machtverteilung in Bezug auf die Wohnungs­politik nicht von anderen wichtigen Politik­feldern." Wie groß die EU-weiten Unterschiede tatsächlich sind, zeigt eine Grafik, die den Anteil von Sozialwohnbau auf einer Europakarte veranschaulich (linke Seite). Wie man sieht, hat sozialer Wohnbau in den verschiedenen Ländern Europas sehr unterschiedlichen Stellenwert. Jedenfalls zeigen sich insgesamt gravierende nationale und regionale Unterschiede.


Subjekt- vs. Objektförderung 

 Alleine schon, wo die Förderung ansetzt, variiert in den verschiedenen EU-Staaten. Die meisten europäischen Staaten folgen dem Prinzip der Subjektförderung, versuchen also die Zahlungsfähigkeit der Haushalte zu verbessern. In Österreich besteht eine Objektförderung, das heißt der Bau selbst wird gefördert. Die starke Position des sozialen Wohnbaus in Österreich ergibt sich zunächst aus historischen Zusammenhängen: Die heutigen Modelle der Wohnbauförderung gehen auf die Zwischenkriegszeit zurück. In der Ersten Republik wurden die ersten sozialen Wohnbauten errichtet, zunächst für die vielen aus den ehemaligen Kronländern zugewanderten Arbeiter. Diese Intervention der damaligen sozialdemokratischen Regierung gilt heute noch als beispielhaft. Bis in die 50er-Jahre wurde im Wesentlichen geschaffen, was heute noch besteht. Die Standards für geförderte und freifinanzierte Wohnungen sind in Wien vergleichbar, und es besteht ein sehr hoher Anteil an leistbarem Wohnraum - alleine 220.000 Wohnungen sind im Besitz der Stadt.


Europäische Vergleiche 

 Ein weiteres Beispiel für große Bestände von Sozialwohnungen und dazu hohe Einkommensgrenzen bei der Vergabe sind die Niederlande, wobei dort ein Trendwandel zu verzeichnen ist. Eine umfassende Reform bezüglich der Bereitstellung und Regulierung von Sozialwohnungen im Jahr 2015 hatte zur Folge, dass der Zugang mehr auf einkommensschwache Haushalte ausgerichtet wurde. Durch die Einschränkung kommt es zwar zu einer gezielteren Zuweisung von Sozialwohnungen an wirklich bedürftige Gruppen, andererseits fallen etwa junge Menschen aus der Gruppe, die früher Anspruch gehabt hätten, weil ihr Einkommen zwar mäßig war, jetzt aber zu hoch dafür ist. Nicht hoch genug allerdings, um sich etwas anderes leisten zu können. „Die Experten wiesen auch darauf hin, dass die niederländische Regierung den Wohnungssektor ungeachtet der EU-Regulierung reformieren wollte und die EU als Vorwand für ihre eigenen Reformwünsche verwen­deten", fügen die Autoren von „Housing Europe" hinzu. Solche Entwicklungen mit umgedeuteten Regulativen finden möglicherweise auch in anderen Ländern statt. Zu den Ländern, die ihren sozialen Wohnbau ausschließlich auf Menschen mit den geringsten Einkommen ausrichten, zählt Großbritannien. Hier sind die Bestände klein und die Einkommensgrenzen sehr niedrig. Ideologische Aspekte spielen in den gesamten Themenzusammenhang hinein: So lässt sich die Situation in Großbritannien auch aus der viel liberaleren politischen Orientierung, gekoppelt mit einem großen Vertrauen auf die Kräfte des Marktes, verstehen. Man glaubte offenbar, dass die Märkte die Wohnungsfrage lösen könnten und vertraute auf gute Entwicklung durch erhöhte Kaufkraft. Wie in Großbritannien und den USA implementierte man seit den 80er-Jahren auch in Deutschland mehr und mehr ein wirtschaftsliberales System - von früher noch drei Millionen Sozialwohnungen blieb etwa die Hälfte. 1990 wurde die Wohnbaugesetzgebung gekippt, was die Anzahl sozial gebundener Wohnungen stark reduzierte. Der klassische soziale Wohnbau wurde beinahe abgeschafft. Das Fördermodell ist anders ausgerichtet als etwa in Österreich: Nicht der Bau selbst wird gefördert, sondern die Eigentümer verkaufen der Stadt/dem Land Belegungsrechte auf 20 Jahre. Nach Ablauf dieser Frist ist die Widmung als Sozialwohnung hinfällig. Wenig erstaunlich daher, dass es in Deutschland anhaltende Diskussionen und Überlegungen gibt, wie man die Wohnungskosten in den Griff bekommen kann. Auch in Großbritannien ist zu beobachten, dass das Pendel wieder zurückschlägt und die seit der Thatcher-Ära vorgenommenen Änderungen neu verhandelt werden.


Wohnungsbedarf in Italien 

 Auch in Italien sind die Sozialwohnungssektoren deutlich kleiner als in nordeuropäischen Ländern oder Österreich. So fehlen leistbare Wohnungen beispielsweise in Mailand, längst Finanzzentrum Italiens mit entsprechend zahlungskräftiger Klientel. Auch hier zog sich der Staat seit den 80er-Jahren aus dem Wohnungsbau und der objektorientierten Wohnbauförderung zurück, wie Artur Streimelweger, Geschäftsführer des VWBF (Verein für Wohnbau­förderung) in einem Bericht aus dem Jahr 2016 schreibt. Er kommentiert die Lage: „Insgesamt wird der Wohnungsbedarf in Italien auf 2,5 Millionen Wohnungen geschätzt, davon warten 650.000 Haushalte auf eine leistbare Wohnung im öffentlichen bzw. gemeinnützigen Wohnungssektor." Wiewohl insgesamt der Bedarf bei weitem nicht gedeckt ist, gibt es einzelne Beispiele mit hoher Qualität, etwa das Holzbauprojekt in der Via Cenni: Hier wurde demonstriert, dass leistbares Wohnen, nachhaltiges Bauen und ästhetischer Anspruch kein Widerspruch sein müssen. Auf 17.000 Quadratmetern entstanden 124 Wohnungen, die 2013 nach kürzester Bauzeit beziehbar waren. Ein französisches Beispiel qualitativer und quantitativer Wohnraumverbesserung ist die berühmte Wohnhausanlage der frisch gekürten Pritzker Preisträger Lacaton Vassal in Bordeaux, bei der die 530 Wohnungen aus den frühen 60er-Jahren in einem spektakulären Upcycling-Prozess mit einer Glasfassade umhüllt wurden, was zu Wohnungsvergrößerungen und mehr Lichteinfall führte. Das Projekt entstand in Kooperation mit Christophe Hutin Architecture und Frédèric Druot und wurde 2016 fertiggestellt.


Vergleichbare Standards? 

 Vorbildliche Projekte finden sich auch in Städten, die ihren Bewohnern im Vergleich zu Wien viel weniger sozialen Wohnbau zur Verfügung stellen. Für Paris nennt Amann etwa „Paris Habitat". Die Gesellschaft ist sowohl im Neubau als auch in der Renovierung, Sanierung und Zweitnutzung von Gebäuden erfolgreich aktiv. Paris Habitat wird von der Stadt Paris unterstützt und verwaltet mehr als 125.000 Wohneinheiten in Paris und den Vororten. Wichtige Punkte auf der Agenda sind außer den Bauprojekten die Sicherstellung eines angenehmen Lebensumfelds und die Belebung lokaler Zentren. Der Aufgabenbereich sozialer Wohnbaupolitik umfasst in dieser Auffassung gesellschaftspolitische Werte wie Solidarität, Vertrauen, Offenheit und Engagement. Paris Habitat ist zudem sehr umweltorientiert, setzt auf Revitalisierung und Vermeidung grauer Energie. Beispielsweise wurde die frühere Residenz Colonel Avia im 15. Arrondissement in ein Studentenwohnheim mit 138 Zimmern umgewandelt. Das Haus erhielt eine Fassade mit Holzrahmen und ist mit Stroh isoliert. In Paris sind übrigens die einzelnen Bezir­ke durch ordnungsrechtliche Maßnahmen gezwungen, einen gewissen Anteil an Wohnungen als Sozialwohnungen zur Verfügung zu stellen. Ganz anders in Wien: Hier sind soziale Wohnbauprojekte zumeist in (ehemaligen) Stadtrandlagen angesiedelt. Die Gründerzeitbezirke haben viele mietpreislich gebundene Altbauwohnungen und bieten daher auch noch vergleichsweise erschwinglichen Wohnraum.


Ex-Ostblock 

 Eine unerfreuliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte erwähnt Wolfgang Amann in Bezug auf die neuen EU-Mitgliedsstaaten. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks und in Ex-Jugoslawien gab es sehr gut entwickelte Systeme des sozialen Wohnbaus, die aber alle in den 90er-Jahren fast zur Gänze privatisiert und von der öffentlichen Hand abgegeben wurden. Der Zerstörung im Zuge der Transformation folgten aber keine entsprechenden Neubauten. Dazu kommt, dass „Systeme, die teilweise in West- und Nordeuropa sehr gut funktionierten, in den ehemals sozialistischen Ländern gar nicht aufgegriffen wurden. Das ist eine bedauerliche Fehlentwicklung, die ich für langfristig negativ halte", meint Amann.


Leistbares Wohnen am Rückzug 

 Die Angebote für leistbares Wohnen gehen insgesamt aus mehreren Gründen zurück. Internationale Finanzinvestoren treiben etwa die Grundstückspreise in die Höhe. Viele Wohnungen sind zudem aus einem fixen Angebot gefallen, weil sie als touristische Mietobjekte nur noch temporär verfügbare Cash Cows sind. Generell kann man sagen, dass die Entwicklung der letzten Jahrzehnte im Westen und Norden Europas, wo es sehr gut entwickelte Systeme gab, einen Rückgang des Sozialwohnbau-­Gedankens mit sich bringt. Die älteste bestehende Sozialsiedlung der Welt wurde übrigens 1521 vom erfolgreichen Kaufmann und Bankier Jakob Fugger gestiftet, für die Gegenleistung, täglich für den Wohltäter und dessen Familie ein Vaterunser, ein Ave Maria und das katho­lische Glaubensbekenntnis zu sprechen. Noch heute wird die Siedlung mit den 67 Häusern und 140 Wohnungen von bedürf­tigen Glaubensgenossen des Gründers bewohnt.

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