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Die Revolution nagt an ihren Frauen

Rund die Hälfte der Frauen in Tunis trägt heute Kopftuch in der Öffentlichkeit. Das war unter Langzeitherrscher Zine al-Abidine Ben Ali verboten. (Bild: Michael S. Williamson / Getty)

Zu Zeiten der Diktatur gab es Rechte ohne Freiheit, jetzt fürchten sich viele Frauen in Tunesien vor der Freiheit ohne Rechte. Gleichheit wird von Konservativen als elitäre und westliche Idee verteufelt.


Ein tiefer Spalt geht durch die tunesische Gesellschaft: Er verläuft zwischen den "Frauen der Elite" und den "Frauen des Volkes". Eine, die sich deshalb grosse Sorgen macht, ist Boutheina Chihi Ezzine: "Die einen laufen Gefahr, ihre Errungenschaften zu verlieren, die anderen, zu hasserfüllten Islamistinnen programmiert zu werden", sagt sie warnend.


Angst vor "fremdem Islam"

Diese Spaltung lasse sich nicht nur gesellschaftlich ausmachen, sondern auch geografisch: als tiefe Kluft zwischen der entwickelten Küste, wo sich Reichtum, Bildung und ein moderner Lebensstil konzentrierten, und dem strukturschwachen tunesischen Hinterland. "Lehrerinnen und Lehrer im tunesischen Hinterland verbreiten gefährliches islamistisches Gedankengut unter den Kindern. Wer nicht betet, wer nicht in die Moschee geht oder sich als Frau nicht freiwillig dem Mann unterordnet, wird als ungläubig ausgegrenzt."

"Die Islamisten", das sind für die Frauenrechtlerin gewaltbereite Extremisten, die Muslimbrüder und die gemässigte Nahda-Partei gleichermassen. Grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen macht sie nicht. "Die von der Nahda geben sich jetzt moderat, um ihre Macht zu sichern. Aber in Wirklichkeit sind das alles Radikale, die uns infiltrieren wollen", ist Ezzine überzeugt. "Das ist ein fremder Islam." Um sich gegen diese Tendenz zu wehren, ist sie im Collectif des Citoyens de Tunisie aktiv, in dem sich über vierzig Nichtregierungsorganisationen zusammengeschlossen haben. Sie haben grosse Angst davor, dass sich Tunesien in einen rückwärtsgewandten islamischen Staat nach saudischem Vorbild verwandelt. Im Kollektiv glaubt man, dass der Arabische Frühling von den wahhabitischen Golfstaaten angestossen und finanziert wurde, um Tunesien zu einem islamistischen Experiment zu machen.

Unter dem 2011 gestürzten Diktator Ben Ali wurde der politische Islam mit allen Mitteln unterdrückt, Politiker der Nahda mussten ins Exil oder ins Gefängnis, bestimmte islamische Kleidung war auf der Strasse verboten. Die neue Freiheit nach dem Sturz des Regimes bedeutete so nicht nur für die moderne Avantgarde in Tunis ganz neue Entfaltungsmöglichkeiten, sondern eben auch für konservative Milieus. Seitdem tragen wieder mehr Frauen Kopftuch, manche sogar Gesichtsschleier. Männer lassen sich Bärte wachsen. Im Parlament sind sie vertreten durch die Nahda-Partei, die seit 2011 an der Regierung beteiligt ist.

Der Aufstieg der Konservativen offenbart ein demokratisches Dilemma. Denn wohin bewegt sich eine Gesellschaft, in der manche Frauen ihre neue Freiheit dafür nutzen, die Religion so zu leben, dass sie weniger frei sind als Männer? Frauenrechte und Demokratie, für viele gehört das zusammen. Doch in Tunesien nicht unbedingt.

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