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Wie Vokale schmecken

© Possible World / Max Neu

„Wir nicht krank. Wir gesund!“ Ihre Hände wurden gefesselt, ihre Sprache verbannt, ihre Kinder getötet. „Die taube Zeitmaschine“ im Berliner Ballhaus Ost gibt der Geschichte von Gehörlosen eine Stimme. Die einprägsamen Bilder verharren noch lange im Kopf. 

Gemeinsame Suche


Vier Hörende und acht Gehörlose gehen gemeinsam auf eine Reise durch die Zeit. Für die Recherche befragten sie gehörlose Senioren über ihre Kindheit als Taube:

„Es waren neun harte Jahre gewesen für meine Großmutter, mich so weit zu bringen. Sobald ich etwas nicht richtig ausgesprochen habe, beim dritten, vierten Mal, bekam ich eine Schelle. Das war nicht schön. Ich bin auch aus dem Fenster gesprungen aus dem ersten Stock, weil ich nicht mehr sprechen wollte.“


Gebärdensprache ist erst seit 1982 erlaubt. Der Weg bis dahin war lang und brutal. "Die taube Zeitmaschine“ ist in fünf Kapitel unterschiedlicher Länge unterteilt. Zu Beginn erzählt eine Frau von ihrer Trauer, als sie erfuhr, dass ihr Kind nichts hören wird. Ihr Mann hört schwer. Das Paar bildet den roten Faden der Geschichte. Sie vertritt die Welt der Hörenden, er die Welt der Tauben. Was sie sagt, gebärdet er auf großer Leinwand.

Zeitsprung. Fünf Männer in weißen T-Shirts stehen am Rand der Bühne in einer Reihe, sie heben ihre Arme. Eine junge Frau mit weißer Bluse zieht einem nach dem anderen das Shirt aus. Dann tippeln sie durch den Raum. An jeder Station, die sie erreichen, werden sie untersucht. Gehörlose galten als krank. „Die Sprache“ ist das erste Kapitel.


Der Essig ist das i


Ein junger Mann mit Cochlea-Implantat, ein in den Kopf implantiertes Hörgerät, liest mit lauter Befehlsstimme einen Text von 1772 vor. Er handelt von der Methode des Eppendorfer Cantors und Organisten Samuel Heinicke Gehörlosen die Tonsprache einzuprägen.


„Will man nun die Vokale, bei Entstummten, fest gründen, so lässt man ihm den scharfen Essig sehr oft, mit dem Finger, oder einer Feder eingetaucht, auf der Zunge oder im Munde, kosten, zeigt ihm dabei das i und setzt den Essig zu seinem immerwährenden Merkmale. Dann nimmt man den Wermuthextrakt und verfährt eben so, und dadurch wird die beständige Form des i und des e, befestigt, dass er nicht einen von diesen beiden Vokalen mit dem anderen verwechselt“


Der Gebärdensprache wurde kein Raum gegeben, der so genannte "sprachliche Genozid" dauerte bis 1981. Das Kapitel „Hören“ verdeutlicht die Methoden, die angewendet wurden, um Taube von ihrer Krankheit zu „heilen“: Aderlass, Blutegel, Elektroschocks. Das nächste Kapitel widmet sich der Gebärde. Ein Mann stellt sich auf einen Hocker und zitiert die Bibel. Es ist die Stelle, in der Gott einen Mann von seiner Taubheit heilte. Männer ziehen ihn vom Hocker und stellen den Mann ein Stück weiter hinten auf einen anderen Hocker. Sie posieren vor ihm wie für ein Foto. Der Mann ist nun Charles Michel l`Epée, der "Vater der Gehörlosen". Die Geschichte der Gebärdensprache beginnt.


Gemalte Sprache 


Diagonal reihen sich Mann und Frau auf, formen mit ihren Händen Buchstaben, nur einer verzweifelt. Wenig später erklärt er in einem unterhaltsamen Solo gemeinsam mit dem Mann mit Cochlea-Implantat die Gebärdensprache. Er gebärdet, der andere redet. Später setzt die Sprache aus und er erzählt allein die Geschichte. Nur mit Mimik und Gesten. Er malt mit seinen Händen die Rundungen eines Frauenkörpers, ihren Mund und imitiert ihren Schritt. Plötzlich versteht man. 


Kapitel vier widmet sich der Verfolgung durch die Nazis. Eine Frau gebärdet die Abtreibung ihres Kindes. Erst später blendet ein Text ein, was sie erzählte. Letzlich war ihr Kind, das ihr genommen wurde, kerngesund. 


"Die taube Zeitmaschine" klärt auf, warum erst jetzt Gehörlose wahrgenommen werden. Und doch kämpfen wir wieder gegen die Natur. Wollen Taube heilen. In Kapitel fünf ruft einer aus der Gruppe: "Gebt uns Fledermausohren!" und spricht sich gegen das Cochlea-Implantat aus. Was gibt uns das Recht, in die Natur einzugreifen und einem Menschen durch elektronische Impulse ein neues Gehör zu verschaffen? 


In zweieinhalb Stunden gebärdet, redet, spielt und performt die Gruppe Possible World Zeitgeschichte, die viel zu lange verschwiegen wurde. 


„Die taube Zeitmaschine“ im Berliner Ballhaus Ost ist das dritte Projekt des Vereins Possible World e.V., den die Schauspielerin und Regisseurin Michaela Caspar 2008 gründete. Sie selbst ist seit einem Hörsturz im Jahr 2008 auf dem rechten Ohr taub. 


Das Stück wurde zuletzt am 14. Juni 2015 im Ballhaus Ost aufgeführt. Der Artikel ist im Dezember auf globe-M erschienen. 


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