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Der Tag, an dem mein Land verschwand

Am 9. November schaute die ganze Welt zu uns. Etwa Unfassbares geschah: Die Menschen durften über die Grenze gehen. Einfach so!

Was war nochmal die DDR? Wie lebte es sich dort? Und wie waren die Jahre 1989/90 für ein Kind?

Für ZEIT-Leo habe ich meine Erinnerungen an die Zeit, zu der ich elf Jahre alt war, erzählt.

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Auszug:

Ein Fitzelchen Plastikmüll war mein Schatz. In unserer Straße hatte ich eine Gummibärchentüte entdeckt, leer und zerrissen. Aber mich bezauberte der golden schillernde Bär darauf. Zu Haus schnitt ich ihn mit einer Nagelschere aus und steckte ihn in mein Tagebuch.
Ich war zehn oder elf Jahre alt. Gummibärchen mochte ich gar nicht so sehr, viel lieber naschte ich Schokolade. Doch diese Tüte war etwas ganz besonderes: "West-Gummibären". Sie kamen aus einer anderen Welt. Das klingt vielleicht komisch, aber so war es für uns.

Mit "Westen" meinten wir nicht nur eine Himmelsrichtung, sondern ein anderes Land, die Bundesrepubik Deutschland. Es war unser direkter Nachbar, doch wir durften nicht einfach hinfahren.
Wir lebten im "Osten", in der DDR, der Deutschen Demokratischen Republik. die Regierung unseres Landes hielt den "Westen" für den großen Feind. Sie ließ die Grenzen unseres Landes von Soldaten strengstens bewachen. (...)

Ein paar Wochen später war der kleine Laden bei uns im Viertel umgeräumt. Auf einmal waren die Regale, in denen sonst nur ein paar Dinge standen, vollgepackt mit Hunderten Sachen, die ich noch nie gesehen hatte. Wo war mein Leckermäulchen-Quark? Nicht zu finden. Shampoo brauchten wir, doch ich sah nur lauter neue, bunte Flaschen. Ich griff irgendeine und ging schnell nach Hause.
Am Abend testete ich das West-Shampoo, aber statt zu schäumen, schmierte es mir die Haare zu. Ich versuchte es dreimal, viermal: Es blieb ein glitschiges Schmaddern. Ich schaute die Flasche genauer an. Spülung stand da drauf. Ich hatte keine Ahnung, was das war und wozu man so etwas brauchen sollte. Aber Shampoo war es wohl nicht.

Ratlosigkeit erlebte ich auch in unserer Schule. Unsere Geschichtslehrerin setzte sich auf ihren Tisch und gestand, dass sie einfach nicht wisse, was für Unterricht sie mit uns machen sollte. Bisher hatte die Regierung genau vorgeschrieben, was wir lernen sollten. Zum Beispiel Russisch. Nun überlegten wir, ob Französisch oder Spanisch nicht auch toll wären. Unsere Schule wurde komplett umgekrempelt.

(...)