Der junge Mann vor dem Kiosk ist genervt. "Was soll das jetzt? Warum kontrollieren Sie mich? Glauben Sie, Sie sind Gott, nur weil Sie Polizei sind?" Schon wenige Sekunden nachdem ihn die Beamten angesprochen haben, droht die Situation zu eskalieren. Florian Dietz, Oberkommissar bei der Frankfurter Polizei, versucht zu beschwichtigen: "Das ist eine ganz normale Kontrolle. Nehmen Sie Ihre Hände aus den Taschen, damit ich sie sehen kann." Der Mann tut, wie ihm geheissen, zögerlich, murrend, sichtbar unzufrieden. Er hält seinen Ausweis schon in der Hand, als er losbrüllt: "Wenn die Polizei frech zu mir ist, dann werde ich auch frech. Habt ihr das verstanden?"
Beweismaterial für ProzesseEin paar Schritte entfernt steht Julie Rettenmeyer. Die Polizistin greift nur im Notfall ein, denn ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Kontrolle zu beobachten. "Videoüberwachung" steht auf einer schwarzen Stoffweste, die die 26-Jährige über ihrer Uniform trägt. Auf ihrer Schulter, gerade einmal etwas grösser als ein Daumen, ruht eine Plastic-Kamera, die sogenannte Bodycam. Noch zögert Rettenmeyer. Der Mann vor dem Kiosk ist zwar verbal aggressiv, hat ihre Kollegen aber körperlich nicht angegriffen. Sobald er das täte, würde sie auf einen Knopf an ihrem Armband drücken. Die Bodycam würde die Szene dann aufzeichnen - als Beweismaterial für spätere Gerichtsverfahren.
So schnell sich die Stimmung hochgeschaukelt hat, so schnell beruhigt sich die Lage auch wieder. Weil gegen den Mann nichts vorliegt, darf er seinen Weg fortsetzen. "Ist es eigentlich erlaubt, Gras zu kaufen?", fragt er, bevor er langsam davontrottet. Auf der Zeil, der Shoppingmeile von Frankfurt, sind solche Szenen alltäglich. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist hier greifbar: Banker im feinen Zwirn treffen auf Obdachlose, die neben den Eingängen von Edelboutiquen schlafen. Auf der Zeil dreht sich alles um den Konsum, aber nicht nur um den legalen: Das Einkaufsparadies gilt als notorischer Drogenumschlagplatz, weshalb das Land Hessen die Bodycams genau dort testet. Wer bei einer Kontrolle gefilmt wird - so die Hoffnung der Polizei -, überlegt es sich zweimal, einen Beamten anzugreifen.
In Frankfurt sind die kleinen Körperkameras seit über einem Jahr an Brennpunkten im Einsatz. Im Stadtteil Alt-Sachsenhausen, einem beliebten Kneipenviertel, seien die Angriffe auf Beamte seither um 37,5 Prozent zurückgegangen, meldet die Polizei. "Die Erfahrungen sind durchweg positiv; ihr Einsatz hat oftmals präventive Wirkung", heisst es vonseiten des hessischen Innenministeriums. Daher werde man das Pilotprojekt nun flächendeckend ausweiten. Insgesamt 72 Kamerasysteme für je 1500 Euro schafft das Bundesland an. Sie sollen, wie in Frankfurt, ausschliesslich an Brennpunkten eingesetzt werden.
Vorbild USABodycams sind ein relativ neues Hilfsmittel der Polizeiarbeit. Genutzt werden die Geräte bis jetzt vor allem in den Vereinigten Staaten. Seit den Ausschreitungen von Ferguson fordern Bürgerrechtler eine drastische Ausweitung des Einsatzes der Kameras, die dazu dienen sollen, aggressive Beamte zu disziplinieren. Im August 2014 hatte dort ein Polizist einen unbewaffneten schwarzen Teenager erschossen und damit landesweite Proteste ausgelöst. Über den genauen Hergang gibt es bis heute Spekulationen - ein Video hätte womöglich Klarheit geschaffen. Umgekehrt können Bodycams auch Beamte entlasten, denen zu Unrecht ein Vergehen vorgeworfen wird. Selbst das Weisse Haus hält diese Argumentation für stichhaltig und will in den nächsten drei Jahren 263 Millionen US-Dollar zur Verfügung stellen, um 50 000 neue Körperkameras anzuschaffen.
Die Begeisterung für das "dritte Auge" der Polizei schwappt allmählich auch nach Deutschland über, und das über Parteigrenzen hinweg. In Berlin bekundet der konservative Innensenator Frank Henkel, er sei "sehr aufgeschlossen" gegenüber der neuen Technik. In Bremen soll sie demnächst ebenfalls zum Einsatz kommen. Am anderen Ende der Republik, im grün-rot regierten Baden-Württemberg, fällt die Erwartungshaltung nicht weniger positiv aus. Auch die Bundespolizei bereitet sich nach eigenen Angaben auf die Einführung von Bodycams vor, wenngleich ein konkreter Zeitpunkt noch nicht bekannt sei.
Doch es gibt auch Widerstand, wie sich am Beispiel Hamburgs zeigt. Johannes Caspar, der Datenschutzbeauftragte der Hansestadt, stört sich vor allem daran, dass der Ton ebenfalls aufgezeichnet wird. "So etwas stellt kein Vertrauen her", sagt Caspar. "Sobald eine Videoaufzeichnung gestartet wird, ist die abschreckende Wirkung erfüllt. Dazu braucht es keine zusätzliche Tonaufnahme." Auch den Umfang des "Bodycam-Gesetzes", das der Hamburger Senat beschlossen hat, lehnt der Datenschützer ab. "Der Begriff ‹technisches Mittel› kann im Grunde alles bedeuten. Er beschränkt sich nicht auf Bodycams, für die die Regelung geschaffen wurde, sondern erlaubt auch den Einsatz aller anderen Kameras." Theoretisch könne die Polizei in Zukunft also auch Drohnen einsetzen, um Bürger unentdeckt zu beobachten.
In Hessen hingegen ist der Datenschutzbeauftragte zufrieden: Es gibt keine Tonaufzeichnungen, die Videos werden verschlüsselt gespeichert und auf einen PC ohne Internetanbindung überspielt. Um Missbrauch von Anfang an auszuschliessen, dürfen sie nur von einem Vorgesetzten angesehen und - sofern keine Straftat vorliegt - gelöscht werden.
In den USA scheint diese Regelung noch nicht einwandfrei zu funktionieren. Sowohl in New Orleans als auch in San Diego - beides Städte mit verrufenen Polizeibehörden - tragen Beamte schon länger Bodycams. Trotzdem sind selbst nach tödlichen Schüssen häufig keine Aufnahmen verfügbar, weil die Polizisten selbst entscheiden, wann sie filmen - und wann nicht.
Und in Deutschland? "Bei uns wird die Diskussion nur aus Polizei-Sicht geführt", kritisiert Hamburgs Datenschützer Caspar. In Hamburg etwa entscheide die Polizei nach vier Tagen selbst, was gelöscht werde und was nicht. Oliver Malchow, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GP), findet diese Regel gut: "Bodycams sind ein gutes Signal für den Schutz unserer Kolleginnen und Kollegen. Sie dürfen aber nicht zur Verhaltenskontrolle der Beamten dienen." Für Rainer Wendt von der mit der GP konkurrierenden Deutschen Polizeigewerkschaft machen Aufnahmen ohne Ton keinen Sinn: "Gewalt geht oft eine verbale Auseinandersetzung voran. Die sollten wir folglich auch festhalten."
Effektivität noch unklarDie wichtigste Frage aber scheint noch nicht beantwortet zu sein: Sind die Minikameras wirklich so effektiv, wie ihre Fürsprecher behaupten? Weder in den USA noch in Deutschland wurde dies bisher von einer unabhängigen Stelle untersucht (siehe Kasten).
Nils Zurawski vom Institut für Kriminologische Sozialforschung mahnt deshalb zur Zurückhaltung. "Der Bericht aus Hessen ist löchrig ohne Ende", sagt Zurawski. Die Angriffe gegen Polizisten seien im Frankfurter Testbezirk von 27 auf 20 Fälle zurückgegangen. "Das allein auf Bodycams zurückzuführen, ist absurd", meint Zurawski. Man wisse überhaupt nicht, wie viele Einsätze die Beamten in diesem Zeitraum gehabt hätten. Ausserdem spielten viele andere Faktoren eine Rolle. Es könne auch schlicht Zufall sein. Dass Bodycams plötzlich bundesweit in Mode kommen, hält der Kriminologe für einen Fehler: "Warum springen alle plötzlich auf diesen Zug auf? Weil es chic ist? Weil Polizisten aussehen wie Robocop?" Zurawski vermutet, dass eine wissenschaftliche Evaluierung absichtlich nicht vorgenommen wird. "Solche Debatten lenken schliesslich vom eigentlichen Problem ab: dem stetigen Personalabbau bei der Polizei." Auch der Polizeigewerkschafter Wendt fordert eine neutrale Auswertung: "Der Teufel liegt im Detail. Es bringt nichts, wenn sich die Innenminister selbst für ihre Heldentaten loben."
Abschreckung als ZielIn Frankfurt haben die Beamten auf Streife unterdessen einen stadtbekannten Dealer im Visier. "Der ist schon mehrmals richtig ausgetickt", sagt Julie Rettenmeyer. "Kann sein, dass ich gleich die Aufnahme starte." Doch an diesem Nachmittag fügt sich der Mann in sein Schicksal. Er kennt schon die Prozedur: Arme ausbreiten, Taschen leeren, ruhig stehen bleiben. Diesmal werden die Gesetzeshüter nicht fündig. "Viele Dealer", sagt Rettenmeyer, "haben in der Innenstadt kleine Verstecke angelegt, in denen sie ihre Ware deponieren. Wenn sie kontrolliert werden, haben sie nichts dabei."
Auch bei den folgenden Kontrollen bleibt die Kamera aus. Es wird diskutiert, gepöbelt, gestikuliert. Die Faust erhebt allerdings niemand. "Das zeigt doch, dass die Abschreckung funktioniert", findet Rettenmeyer. "Unser primäres Ziel ist es, die Gewaltspirale zu durchbrechen." Ob eventuelle Aufnahmen später auch als Beweismaterial taugen, wird sich zeigen.
Auch dazu gibt es, wie so oft beim Thema Bodycams, noch keine verlässlichen Zahlen. Zweimal, sagt das Innenministerium, seien die Videos schon vor Gericht verwendet worden. Das Ergebnis lässt zumindest Raum für Interpretationen: "Sie haben zu Verurteilungen anlässlich von Angriffen auf Polizistinnen und Polizisten beigetragen", beteuert das Innenministerium. Und schiebt vorsorglich nach: Im Sommer 2015 sei mit weiteren Auswertungen zu rechnen.