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Yudis und das Schicksal der Verschwundenen

Mit zitternden Händen wähle ich die Nummer. Schon das tönende Freizeichen lässt mich zusammenzucken. Eine leise Frauenstimme meldet sich. Ich spreche langsam, betone jede Silbe. „Spreche ich mit Yudis", „ja! wer ist denn da?" kommt es unbedeutend zurück. „Ich heiße Stephan und habe den Artikel über den im Wasser treibenden Arm geschrieben". Eine unangenehme Stille setzt ein. Ich frage nach ob sie noch da ist. Langsam kommt die Stimme am anderen Ende der Leitung zurück, dann immer schneller sprudelt es aus ihr heraus.

Ihr Sohn ist seit über einem Monat verschwunden. „Er wollte zu einem Fußballspiel nach Medellín, davon hat er mir aber nichts erzählt, weil er wusste, dass ich ihn nicht lassen würde. Aber er ist Fan des Clubs Nacional und fuhr mit einem Freund". Sie kamen aber nie an. Wahrscheinlich haben sie schon auf dem Weg gemerkt, dass sie es nicht mehr bis zum Anpfiff schaffen würden und entschieden deswegen, das Spiel sausen zu lassen und stattdessen lieber in den nahe gelegenen Stauseen baden zu gehen. „Dort war ich früher als er klein war auch oft mit ihm" erzählt Yudis weinend. Mir fällt es schwer meine Stimme zu beherrschen. „Wie hieß..." - ich beiß mir auf die Zunge - „ich meine, wie heißt ihr Junge denn".

Duan wäre zehn Tage nach seinem Verschwinden 17 Jahre alt geworden. Er hatte Pläne, wollte Ingenieur werden. Seine Eltern beabsichtigten ihn auf ein Internat in Santa Rosa zu schicken, um seine Aussichtschancen zu verbessern. Duan stimmte dem auch zu und freute sich auf den Umzug. Das Fußballspiel, zu dem er wollte, war ein Klassiker. Atlético Nacional sollte Zuhause in Medellín auf die „Erzfeinde" Santa Fé aus Bogotá treffen. Die Partie ging unentschieden und ungewöhnlich friedlich aus.

Gute sechs Stunden Fahrt trennt Duans Heimatstadt Caucasia von der antioquenischen Metropole. Man weiß nicht was aus Duan und seinem ebenfalls verschwundenen Freund Jeferson geworden ist. Es gibt viele Gerüchte. Doch ihre Spur verliert sich in der Nähe von Baru, nur eine halbe Stunde außerhalb von Caucasia. Einige Leute sagen, sie hätten die beiden noch vor Tarazá gesehen. Dort liegen auch die Stauseen und der Fluss Nechí führt von dort weiter Richtung Norden.

Als pbi-Freiwilliger begleitete ich damals eine Menschenrechtsverteidigerin auf einer Reise in den Nordosten des Departamentos. In einem kleinen Motorboot tuckerten wir auf demselben Fluss kurz nach Duans Verschwinden Richtung Caucasia. Ich erinnere mich noch gut, wie der Bootsführer ausrief „Da liegt ein menschlicher Arm im Wasser!". Er hatte das damals mit einer erschreckenden Natürlichkeit gesagt. Es war reiner Zufall, dass wir auf den Arm stießen. Wir kamen gerade aus der Provinzhauptstadt Nechí und befanden uns auf dem Rückweg nach Medellín.

Nechí ist einer der vielen abgelegenen Orte die von dem derzeitigen Wirtschaftsaufschwung Kolumbiens vergessen wurden. Die kleine Stadt an dem gleichnamigen Fluss liegt im äußersten Nordosten Antioquias, im Herzen Kolumbiens. Hier geht der bewaffnete Konflikt ungehindert weiter. Angeheizt wird er durch den internationalen Goldrausch, denn die Region ist reich an Edelmetallen. Die Stadt und ihre Hafenmole lagen weit hinter uns, als wir zwischen dem vielen Treibgut die weißliche Haut schimmern sahen.

Der bleiche Arm, den wir vor uns, in den von unserem Boot verursachten Wellen hin und her schaukeln sahen, zeugte noch von den Spuren der Fesseln. Rostbraun hoben sich die Striemen vom Rest der schneeweißen Haut ab. Fische und Mikroorganismen hatten schon begonnen das nackte Fleisch der Wunde anzunagen. Es schien, dass der Arm mit einem Beil oder einer Machete abgetrennt wurde. Anders als die rötlichen Striemen zeigte diese Wunde kein Blut, sie erschien eher gräulich-weiß. Man konnte Fleisch und Knochen nicht unterscheiden.

Man erkannte aber, dass die Täter mehrfach angesetzt haben mussten, die Schmerzen des Opfers müssen unaussprechlich gewesen sein. Der Anblick hätte nichts Furchtbares an sich gehabt, wenn da nicht die Geschichte hinter dem leblosen Stück Fleisch gewesen wäre. Diese Geschichte begann mit dem Tattoo, das stolz auf dem bleichen Oberarm prangte und in verschnörkelter Schrift den Namen einer Frau zu lesen gab: Yudis.

Dieses Tattoo beschäftigte mich später noch eine ganze Weile. Ich erinnere mich wie der Arm in den schmutzigen Wellen auf und nieder ging. Zuerst fiel es uns schwer ihn als menschlichen Arm zu erkennen. Die Leichenblässe hätte auch das Marmorweiß eines Mannequins sein können. Oft wenn ich später in den Schaufenstern von Medellín oder Bogotá fein gekleidete starre Puppen betrachtete, suchte ich auf ihren Oberarmen den Namen von Yudis. Eine kolumbianische Freundin schilderte mir, wie ihre Mutter ihr früher erzählt hatte, dass die angeschwemmten Wasserleichen von Verschwundenen, in Wirklichkeit nur Puppen wären. Vielleicht ist das ein natürlicher menschlicher Schutzmechanismus. Man will das Grauen nicht wahrhaben.

Aufgrund dieser Erfahrung schrieb ich einen Blogeintrag auf Spanisch den ich nach dem Namen des Tattoos „Yudis" nannte. Eine Freundin von Duan fand den Text im Internet und benachrichtigte seine Mutter. Auf Facebook hinterließ Yudis einen post und fragte nach dem Tattoo. Von diesem erzählte sie mir nun am Telefon: „Das Tattoo hat er sich hinter meinem Rücken machen lassen. Er wusste, dass ich dagegen sein würde. Ich belauschte ihn bei einem Gespräch mit seinem Freund als sie den Plan des Tattoos diskutierten. Danach sagte ich ihm, wenn er sich den Namen irgendeines Mädchen tätowieren lassen sollte, würde ihm Zuhause was blühen".

Es war im Oktober, nur ein halbes Jahr vor seinem Tod, als er mit dem Tattoo auf dem Arm zurück Nachhause kam. „Er hatte sich meinen Namen tätowieren lassen und sagte mir, ‚aber Mama ich hätte mir doch nie irgendeinen Namen eingravieren lassen, mit dem ich dann immer hätte rumlaufen müssen. Ich hab mir den Namen der Frau stechen lassen, die mich niemals verlässt und die ich am meisten von allen liebe'. Yudis meint stolz, „was sollte ich denn dagegen sagen?". Mir stockt die Sprache.

Ihr Leben hat sich nach dem Verschwinden ihres Jungen radikal verändert. Früher, das war vor zwei Monaten, arbeitete sie bei einem Friseur im Ort. Das gab sie auf, nachdem ihr Sohn nicht nach Hause kam. „Mein Leben nahm von da an eine andere Richtung". Sie kann nicht verstehen, warum man ihm das angetan hat. Seitdem sie den Artikel gelesen hat, träumt sie von dem „verfluchten Fluss". „ich fahre in einem Boot, ähnlich wie das von euch. An einer Stelle warten Duan und Jeferson auf uns im Fluss. Sie schwimmen dort, sind aber schon ganz bleich, wie der Arm den du beschrieben hast." Es läuft mir eiskalt den Rücken runter.

Den Blogeintrag hatte ich geschrieben, ohne die Geschichte von Duan und seiner Familie zu kennen. Deswegen entschied ich mich, den Artikel neu zu bearbeiten, um in ihm das Schicksal von Duan und Yudis zu betonen. Denn es war eben nicht nur ein Stück Fleisch, sondern ein Mensch mit einer Geschichte. Es ist schwer den Opfern von Verschwundenen Hoffnung zu schenken. Aber das tragische Ende von Duan und das Leiden seiner Mutter sollen aufrütteln und Angehörige von Verschwundenen bei der Suche nach der Wahrheit unterstützen. Eine Mutter von einem Verschwundenen hat mir mal erklärt, was für ein Martyrium die Unwissenheit sei. „Jeden Tag erwacht man mit der Hoffnung auf seine Rückkehr, nur um wieder und wieder enttäuscht zu werden".

Wir mussten damals den Arm treiben lassen, fotografierten ihn aber zum Beweis und informierten die örtliche Polizei, doch die fand später - vermutlich aufgrund der starken Strömung - nichts. Vor ein paar Monaten ist Yudis nach Medellín zur Identifizierung der Fotos geladen worden. Ich werde sie noch mal anrufen. Bei unserem letzten Telefonat habe ich ihr von dem Plan erzählt über ihre Suche zu schreiben. Ihre Geschichte lässt mich nicht mehr los. Doch sie ist nur eine von tausenden kolumbianischen Müttern die ihre Söhne und Töchter in den chaotischen Fluten des jahrzehntelangen Konflikts suchen. Und so geht in vielen Regionen Kolumbiens das unnötige Sterben weiter, denn die Pest der sinnlosen Gewalt ist eine schwer zu bekämpfende Krankheit.

Dieser Text ist eine Zusammenfassung zweier Artikel die zuvor bei pbi-colombia und pbi-deutschland veröffentlicht wurden. Beide sind aber auf meinen Wunsch nicht mehr online verfügbar. Der vorliegende Text bezieht sich auf Ereignisse im Frühjahr 2014. Eine Arte-Reportage über den Fluß und die Folterhäuser hat mich wieder auf die Geschichte gebracht. Ich habe Yudis nie wieder angerufen.
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