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"Yalla, wir schaffen das!"

Beirut ist nach der Explosion im August vergangenen Jahres noch immer zerstört. Ein Teil der jungen Generation ist geblieben und baut die Stadt wieder auf.

Die Zukunft Beiruts klingt nach Baulärm und Elektro-Pop: "If you want to go, I’ll take you back one day, because this isn’t Paris and this isn’t London." Der Song The Bay der Band Metronomy hallt aus einem Lautsprecher im ersten Stock eines zerstörten Hauses. Schweiß klebt der Studentin Shana Farjallah 20, auf der Stirn. Sie hievt einen Stein in die Arme eines Kollegen, er soll erst mal auf das Dach. Danach wiegt sie ihren Körper zum Rhythmus der Musik. In diesem Moment scheint die Katastrophe weit weg – und doch ist Shana mittendrin.

Auf dem Dach des Hauses haben Shana und ihre neun Kollegen freie Sicht auf den Hafen von Beirut, der im Nordosten der libanesischen Hauptstadt liegt. Sie schauen auf ein Getreidesilo, das aussieht wie eine zusammengesackte Sandburg, und auf Lagerhallen, deren Stahlträger ineinander verbogen sind wie Spinnennetze.

Mehr als acht Monate ist es her, dass am 4. August 2020, um 18.08 Uhr, in Lagerhalle 12 durch ein Feuer mehrere tausend Tonnen Ammoniumnitrat explodierten, ein Salz mit großer Sprengkraft. Etwa 200 Menschen starben, Tausende wurden verletzt, mehr als 9000 Gebäude wurden beschädigt, Wohnhäuser, Krankenhäuser, Geschäfte. Rund 300.000 Menschen verloren ihr Zuhause.

Seitdem organisieren und finanzieren vor allem Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit Spendengeldern den Wiederaufbau. Hunderte Freiwillige unterstützen sie dabei, ohne Geld dafür zu bekommen. Sie packen selbst an, weil der Staat sich kaum kümmert. Der Libanon steht kurz vor dem Bankrott. Das libanesische Pfund ist durch die schwerste Finanzkrise der Geschichte nahezu wertlos. Die Weltbank schätzt, dass mittlerweile knapp die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, mehr als jeder Zweite zwischen 15 und 34 Jahren ist ohne Arbeit. In den vergangenen zwei Jahren ging die Bevölkerung auch deshalb immer wieder gegen die Regierung auf die Straße, weitgehend erfolglos. Die Explosion war für viele der geschätzt 6,8 Millionen Bewohner des Landes zwischen Syrien und Israel die eine Katastrophe zu viel: Sie beschlossen auszuwandern.

Dies ist die Geschichte von drei jungen Menschen, die bleiben wollen. Von Shana, die als Freiwillige die Stadt vom Schutt befreit, von Rami, der den Wiederaufbau mitorganisiert, und von Ghida, die freiwillige Helfer an NGOs vermittelt. Warum will ein Teil der jungen Generation ein Land retten, das ihnen nichts bieten kann?

"Yalla, Leute, wir schaffen das", ruft Shana. Jetzt steht sie zwei Straßen weiter vor einem Haufen Sand und verteilt weiße Säcke an ihre Kollegen, die ihn hineinschippen. Die Bauarbeiter brauchen ihn später, um Wände zu verputzen. Fast alle tragen dunkelblaue Latzhosen über weißen T-Shirts, auf denen Offrejoie steht, der Name der NGO, für die sie arbeiten. Eigentlich organisiert die 1985 gegründete Organisation Sommercamps für Jugendliche. Jetzt will sie im Arbeiterviertel Karantina und dem Ausgehviertel Mar Mikhael mehr als fünfzig Gebäude aufbauen, darunter mehrstöckige Wohnhäuser, Lebensmittelläden und die Feuerwache. [...]