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Katalonien: Die Abhängigkeitserklärung

Sí. Sí. Gisela Abella zählt. Jedes Sí ist ein Finger. Zusammen mit Tausenden Menschen steht sie in Barcelona vor einer Großleinwand. Wenige Meter entfernt im Parlament Kataloniens hat die Regierungskoalition gerade über die Unabhängigkeit von Spanien abgestimmt. Ein Politiker nach dem anderen ist nach vorne gegangen, hat der Parlamentspräsidentin einen weißen Zettel übergeben. Jetzt wird gezählt. Sí. Sí. No. Gisela zuckt zusammen.

70-mal Sí zählt Gisela. Das ist die Mehrheit. Dann fällt sie ihrer Schwester um den Hals. Gisela schluchzt vor Glück, Tränen laufen über ihre Wangen. Unabhängigkeit. Die beiden Frauen sagen kein Wort, minutenlang.

Für diesen Moment sind Gisela und Jeannine Abella seit Jahren auf die Straße gegangen, haben demonstriert, gewählt, wieder demonstriert und noch mal gewählt. Seit mehr als fünf Stunden stehen sie in der Sonne, haben unermüdlich gepfiffen, als im katalanischen Parlament die spanische Verfassung verteidigt worden ist. Ihr zufolge ist die Unabhängigkeitserklärung genauso illegal wie die Abstimmung darüber. Jedes Sí ist also auch eine Straftat, die sogar von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden könnte. Der Großteil der Opposition hat längst den Saal verlassen. Sie will mit der Abstimmung nichts zu tun haben.

Gisela ist das egal. Sie reckt ihre Faust in die Höhe. Und singt die katalanische Nationalhymne. Marc Pero stimmt mit ein. Der 58-Jährige kommt aus einem Dorf in den Pyrenäen, ist extra für die Abstimmung nach Barcelona gefahren. "Vielleicht bleibe ich gleich hier", sagt er. Direkt nach der Verkündung der Unabhängigkeit laufen die WhatsApp-Gruppen der Separatisten heiß. Die Feier am Samstag wird bereits geplant.

Für Puigdemont könnte das Wochenende seine vorerst letzten Tage in Freiheit bedeuten. Nur wenige Minuten nach der Unabhängigkeitserklärung hat der Senat in Madrid Zwangsmaßnahmen nach Artikel 155 der spanischen Verfassung gebilligt. Auch Sozialisten und Liberale stimmten mit der konservativen Regierungspartei PP.

Am Abend verkündete Ministerpräsident Mariano Rajoy dann seine Entscheidung: Er setzte die gesamte katalanische Regierung ab. Am 21. Dezember sollen Neuwahlen in Katalonien stattfinden. Zudem löste Rajoy den Chef der katalanischen Polizei ab und ordnete die Schließung der katalanischen Vertretungen im Ausland sowie die Schließung des auswärtigen Dienstes der Region an. Dieser arbeitet seit Jahren daran, andere Staaten von der Anerkennung eines unabhängigen Kataloniens zu überzeugen und spielt eine zentrale Rolle in der PR-Kampagne der Separatisten.

Die Justiz wird Carles Puigdemont und seine Minister zudem wohl rechtlich belangen. Der Generalstaatsanwalt hat bereits angekündigt, wegen "Rebellion" gegen die katalanische Regierung ermitteln zu wollen - das würde bis zu 30 Jahre im Gefängnis bedeuten. Puigdemonts einzige andere Option: eine Flucht ins Exil. Gerüchten zufolge stehen hinter der Grenze zu Frankreich, in "Roussillon" - oder "Nordkatalonien" wie die Nationalisten die Region nennen - bereits Villen für die katalanische Regierung bereit.

Video: Katalanisches Parlament stimmt für Unabhängigkeit

Gisela weiß das alles, alle Demonstranten vor dem katalanischen Parlament wissen es. Sie bejubeln eine Unabhängigkeit, die sie in die Abhängigkeit treibt. Kaum ein Land dürfte die einseitige Unabhängigkeitserklärung anerkennen. Die EU hat der spanischen Regierung bereits Unterstützung zugesichert - die Bundesregierung warf Katalonien bereits "Verfassungsbruch" vor. Auch deshalb ist die Freude bei einigen Separatisten nur von kurzer Dauer. Viele sind bereits auf dem Heimweg, als in Madrid die Entmachtung der katalanischen Regierung bekannt gegeben wird.

Tatsächlich geht der Konflikt zwischen katalanischer und spanischer Regierung nun in eine neue Phase. Keiner weiß, ob die Katalanen ihre Regierung, ihre Beamten, ihre Institutionen nicht verteidigen werden. Etwa mit Menschenketten - und wie die spanische Polizei dann reagiert. Zumindest Scharmützel zwischen Demonstranten und Polizisten schließen selbst die sonst betont friedfertigen Katalanen nicht mehr aus.

Dabei wäre die Eskalation des Konflikts durchaus zu vermeiden gewesen. Puigdemont hatte am Donnerstag bereits nachgegeben, war bereit, Neuwahlen auszurufen. Letztlich fanden Madrid und Barcelona doch nicht zueinander. Zu viel Vertrauen war in den vergangenen Monaten verloren gegangen. Rajoy blieb stur, für seine konservative Regierung ist der Artikel 155 offenbar ein willkommener Anlass, der Unabhängigkeitsbewegung bleibenden Schaden zuzufügen. Puigdemont hingegen erlag dem Druck aus den eigenen Reihen. Am Donnerstag hatten Unabhängigkeitsbefürworter ihn einen "Verräter" geschimpft, mit Judas verglichen. Letztlich überließ er die Entscheidung dem katalanischen Parlament - die Hardliner auf beiden Seiten haben sich durchgesetzt.

Unter den Maßnahmen Madrids werden nun auch die Katalanen leiden, die nicht für die Unabhängigkeit sind. Je nach Umfrage ist das knapp mehr die Hälfte der Einwohner Kataloniens. Marcos ist einer von ihnen. Er heißt in Wirklichkeit anders, möchte seinen Namen aber nicht nennen. Der 18-Jährige hat die Unabhängigkeitserklärung vor dem Fernseher seiner Eltern verfolgt und sagt: "Ich bin traurig. Das war ein Putsch gegen die schweigende Mehrheit der Katalanen."

Er hofft jetzt auf Nachsicht aus Madrid, selbst seine Beziehung steht auf der Probe. Marcos' Freundin ist für die Unabhängigkeit. So gut es geht vermeiden die beiden das Thema - aus Angst, sich zu streiten. In den kommenden Tagen wird das wohl noch schwerer als sonst.

Marc Pero guckt nervös auf sein Handy, verfolgt, was in Madrid passiert. "Ich hoffe, dass es nicht zu hart wird", sagt er. Eine Frau fällt ihm im Vorbeigehen ins Wort. "Das ist egal. Wir wussten doch alle, dass wir leiden würden. Jetzt ist es so weit."

Tatsächlich ist die Eskalation des Konflikts wohl einkalkuliert, es ist nur ein weiterer Zug im seit Monaten andauernden Schachspiel um die Unabhängigkeit. Die Separatisten sind gegenüber Madrid deutlich im Nachteil - hoffen aber darauf, dass sich entscheidende Teile der katalanischen Gesellschaft nun so radikalisieren, dass am Ende erstmals eine deutliche Mehrheit für die Unabhängigkeit ist. Ihr Argument: Die Unabhängigkeit sei quasi aus Notwehr erfolgt, Rajoy zu keinem Dialog bereit gewesen.

Gisela jedenfalls wird alles für die Unabhängigkeit geben. "Ich habe keine Angst," sagt sie, bevor sie sich auf den Weg nach Hause macht. "Ich werde mein Land verteidigen. Bis zum Schluss."

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