Wie sicher sind wir, wenn wir in der Innenstadt Rad fahren?
Die Ampel ist für beide grün: Nadine sitzt auf dem Fahrrad, Karsten G. am Steuer seines Lkw. Er will nach rechts, sie geradeaus. Er oben, sie unten. Beide rollen los. 26 Tonnen Lkw gegen die 19-jährige Nadine. Sie stirbt noch an der Unfallstelle.
Der Fahrer des Lasters, Karsten G., steht deswegen vor dem Hamburger Amtsgericht. Der Vorwurf lautet: fahrlässige Tötung.
Die entscheidende Frage: Hätte der 61-jährige G. Nadine in einem seiner fünf Spiegel bemerken müssen? Oder war das unmöglich?
Zeugen sagen, die junge Frau habe direkt neben dem Laster gestanden, sich mit dem Ellenbogen abgestützt. Und habe noch versucht, wegzukommen. Vergeblich.
Kreuzung in Hamburg: Hätte G. Nadine bemerken müssen? (Bild: bento / Steffen Lüdke)
Bewegungslos starrt der Trucker im Saal 137 des Amtsgerichts ins Nichts. Seit 40 Jahren fährt er Lkw, an seinem linken Ohr hängen drei silberne Ohrringe, die Stimme brummt wie der Motor eines Trucks. Für rund 1700 Euro netto tourt er quer durch Deutschland, hat schon zwei Millionen Kilometer hinter sich, sagt er selbst. Wegen Truckern wie Karsten G. kommen Waren und Bauteile pünktlich bei Supermärkten und in Fabriken an. Die Touren, die Autobahnen, das Führerhäuschen, für Karsten G. war das Arbeit und Alltag. Jetzt hat er Nadine auf dem Gewissen.
Vor Gericht geht es um bis zu fünf Jahre Haft und ein mögliches Fahrverbot, es könnte ihn seinen Job kosten. Nadines Mutter will, dass G. bestraft wird. Möglichst hart. Sie tritt als Nebenklägerin auf und ist sich sicher: Der Trucker hat nicht richtig in die Spiegel geguckt.
Aber an diesem Tag geht es im Amtsgericht auch um Fragen, die uns alle betreffen.
Wie sicher sind wir, wenn wir in der Innenstadt Fahrrad fahren? Müssen wir ständig damit rechnen, von einem Laster erfasst zu werden, weil die Fahrer in manchen Situationen keine Chance haben, uns zu sehen?28 Radfahrerinnen und Radfahrer sterben in Deutschland im Schnitt pro Jahr, weil Lkw-Fahrer sie beim Rechtsabbiegen übersehen ( SPIEGEL ONLINE). In diesem Jahr sind es bereits 18 Tote ( SPIEGEL TV). Die Lkw-Unfälle sind vergleichsweise selten, aber oft enden sie tödlich.
"Abbiegende Lkw sind eine Todesfalle für Radfahrende", sagt Burkhard Stork deshalb. Er ist Bundesgeschäftsführer des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC), er setzt sich für die Interessen der Radfahrer ein. Schon lange tobt der Kampf zwischen Fahrradlobby und Lkw-Fahrern. Als Anfang Mai ein Kühllaster eine Frau in Hamburg überrollte, protestierten wütende Menschen mit einer Mahnwache. Auch in Berlin und vielen anderen Städten wird demonstriert. In Leipzig rät die Polizei Radfahrenden, im Zweifel auf ihr Vorfahrtsrecht zu verzichten, um Kollisionen zu verhindern.
Der Tag des Unfalls im Oktober 2016 war Nadines zweiter Arbeitstag in Hamburg, gerade hatte sie eine Ausbildung zur Rettungsassistentin angefangen. Später wollte sie Medizin studieren, ihre Familie war stolz.
Der Lkw überfuhr sie in der Wandsbeker Chaussee, einer viel befahrenen Straße im Osten Hamburgs. Im Feierabendverkehr war sie auf dem Weg zum Hauptbahnhof, von dort wäre sie mit dem Zug zu ihrer Familie nach Bremen gefahren. Am Unfallort hängen Bilder von Nadine. "Warum?" hat ihre Familie unter das Bild geschrieben. Und: "Wir werden dich immer lieben <3"
Laternenmast in Hamburg: Ihre Familie war stolz (Bild: bento/Steffen Lüdke)
Im Prozess gegen G. hofft insbesondere Nadines Mutter, Antworten zu finden. Als die Anwälte diskutieren, wie weit ihre Tochter vom Lkw mitgeschleift wurde, ist ihr Blick leer. In der Pause bricht sie in Tränen aus. "Ein Kind zu Grabe zu tragen, fühlt sich an, als würde man selbst sterben", sagt sie. "Ich kämpfe jeden Tag dagegen an, ihr zu folgen."
Auch um ihre andere Tochter, Nadines ältere Schwester, mache sie sich Sorgen. "Die ist völlig von der Rolle", die Ehe der Tochter sei an Nadines Tod zerbrochen.
Mutter von Nadine: "Ich kämpfe dagegen an, ihr zu folgen" (Bild: bento / Steffen Lüdke)
G. schaut auf die Tränen der Mutter, sein Körper ist ruhig, nur die Gesichtsmuskeln zucken. Er hat versucht, sich bei der Familie zu entschuldigen, sie wollte seine Worte nicht hören.
Mit dem Gefühl, ein junges Leben beendet zu haben, muss G. nun leben. "Ich stehe mit dem Unfall auf und gehe mit dem Unfall ins Bett", sagt er in der Verhandlung. Sechs Wochen konnte er nicht fahren, war in psychologischer Behandlung. Dort riet man ihm, sich wieder hinters Steuer zu setzen, sonst werde es immer schwerer, in den Beruf zurückzukehren. Also fährt er wieder.
Ich konnte Ihre Tochter nicht sehen, wirklich nicht. Es tut mir aufrichtig leid.
Er schaue immer in die Spiegel, auch an diesem Tag habe er das getan. Schließlich habe der Lkw schon gestanden, G. habe noch einen Fußgänger durchgelassen. "Ich fahre nicht einfach los und hoffe, dass niemand kommt."
Nadine sah er nicht.
Wer wissen will, wie gefährlich das Rechtsabbiegen für Lkw-Fahrer ist, muss den beiden Prozess-Gutachtern zuhören. Theoretisch hätte Nadine in mindestens einem der vier Spiegel auf der rechten Seite auftauchen müssen, sagen sie. Zumindest kurz. Aber: Jeden Spiegel kontrollieren, durch die Seitenscheiben blicken, sich aufs Losfahren konzentrieren, das kostet Zeit. Manchmal auch fünf Sekunden, kalkuliert einer der Gutachter. Eigentlich könne ein Trucker wieder von vorne anfangen, wenn er in alle Spiegel geblickt habe. Denn in der Zwischenzeit könnte sich ja wieder eine Radfahrerin genähert haben.
Auch deswegen wird in Deutschland derzeit über elektronische Abbiegehilfen für Lkw diskutiert. Sie überwachen per Radar die nähere Umgebung des Lkw. Droht Kollisionsgefahr, blinkt eine rote Leuchte und ein akustisches Warnsignal ertönt. In einigen Fahrzeugen setzt Mercedes-Benz dieses System bereits ein. Edeka hat für die Liefertrucks des Unternehmen gar ein eigenes System entwickelt.
Mehr als 40 Prozent der Unfälle zwischen Lkw und Radfahrerinnen könnte so ein elektronischer Abbiegeassistent verhindern. Und mehr als jedem dritten dieser Unfallopfer das Leben retten. Das ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts, das die Unfallforschung der Versicherer durchgeführt hat.
Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) soll deshalb in Brüssel Druck auf die EU machen, fordern Union, Grüne und Linke. Bis es eine internationale Regelung gibt, wollen ADFC und Grüne eine nationale Pflicht für Abbiegeassistenten an Lkw einführen.
Nadines Mutter versteht nicht, warum die elektronischen Hilfen nicht längst Pflicht sind. "Egal, was das kosten würde, das ist es wert. Wie viele Menschen sollen denn noch sterben?"
(Bild: bento/Steffen Lüdke)
Ob die elektronischen Hilfen Nadines Tod verhindert hätten? Ganz klar ist das nicht. Die gängigen Abbiegeassistenten hätten eher nicht geholfen, glauben die Gutachter. Dafür stand Nadine mit ihrem Fahrrad wohl zu weit vorne.
Eigentlich sind die Assistenten für die Frage nach Karsten G.s Schuld auch egal. Dass in dem Verfahren über sie diskutiert wird, zeigt: Die Gutachter und der Richter wissen, wie riskant es ist, wenn Lkw abbiegen. Es ist nicht leicht zu akzeptieren, dass ein Trucker, der bereits angehalten hat, eine Frau auf einem Fahrrad nur wenige Zentimeter neben seinem Fahrzeug so einfach übersehen kann.
Der Richter spricht deshalb von einer "extrem gefährlichen Situation", in der sich Nadine befunden habe. Vielleicht hätte sie einen weiten Bogen um den Lkw machen sollen, sagt er.
Aber Nadine sei nicht schnell gefahren. G. hätte sie theoretisch sehen können. Wenn auch nur kurz. Und nur, wenn er im richtigen Moment hingeschaut hätte. Deswegen habe er sie fahrlässig getötet.
Das Urteil: Sechs Monate Haft auf Bewährung, 1200 Euro Geldbuße. G. muss außerdem für die Kosten des Prozesses aufkommen.
Nadines Mutter steht noch minutenlang im Innenhof des Amtsgerichts. Als Nebenklägerin hat sie gewonnen. Glücklich ist sie nicht. "Ich muss das erst mal verdauen", sagt sie.
G. hingegen verlässt das Gericht wortlos. Ein Fahrverbot hat er nicht bekommen. Dazu gebe es überhaupt keinen Anlass, sagte der Richter. G. werde mit Sicherheit vorsichtig sein, wenn er rechts abbiege. Daran müsse er nun wohl nicht mehr erinnert werden.
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