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Totentanz

Ich trank. So wie ich es immer auf Familienfeiern tat. Anders ist das Elend auch kaum zu ertragen. Ich glaube sogar, dass Menschen einzig aus diesem Grund immer wieder an runden Geburtstagen und edelmetallenen Hochzeiten zusammenkommen. Es ist eine Legitimation sich zu betrinken. Und anders als auf Betriebsfeiern kann man sich hemmungslos daneben benehmen, ohne dass am nächsten Tag ein kopierter Arsch am Schwarzen Brett hängt. Aber während meine so genannte Tante Betty schon alle Hemmungen hatte fahren lassen, war ich noch nicht so weit.
Die Getränke waren umsonst, aber man musste sie sich selbst von der Bar holen, obwohl ein Kellner in absurder Uniform herumlief. Er sammelte nur die leeren Gläser ein. An meinem Tisch war er schon viermal. Ich war zu träge um aufzustehen und mir das nächste Glas Bier zu holen, daher liess ich meinen Blick über die anderen Tische schweifen. Das war ein Fehler.

Fremde Blutsverwandte in Kaufhausanzügen und zu eng gewordenen Abendkleidern, willkürlich um Plastiksträusschen gruppiert. Rotweinschorle, die von einer Papiertischdecke auf die Fliesen des Saals tropfte. Irgendein Schwager wirbelte Betty im Rhythmus von 'Living next door to Alice' über die Tanzfläche. Nicht mehr lange und die Band würde zu Neuer Deutscher Welle und Schlagern übergehen.
Papa Herbert, der niemandes Papa ist, faltete Servietten zu Origami-Schwänen und heimste sich dafür gottgleiche Anerkennung von einer Horde Kinder ein.
Am frustrierendsten war ein Pärchen Ende 20, offensichtlich frisch verheiratet (sie trug ein Brautkleid). Beide auffällig nüchtern wirkend, tanzten sie sehr eng und unpassend langsam zur Musik. Sie blickten einander tief in die Augen und grinsten dement. Ihr Scheißglücklichen! Ich wollte mein Glas nach ihnen werfen, aber der hellblaue Pinguin hatte es schon abgeräumt.

Der Stuhl neben mir bewegte sich und mein Vater nahm Platz. Gott sei Dank! Er war der einzige Gast, den ich ertragen konnte, ohne ihn totbeissen zu wollen. Wortlos starrten wir beide auf das singende, springende Durcheinander. Irgendwann fiel mir auf, dass wir beide kaum merklich den Kopf schüttelten. Beherzt trank er den letzten Schluck aus einem Glas, das man 'Tulpe' genannt hatte, als ich jünger war, und stellte es lautstark auf den Tisch.
"Hast du dem Paar schon gratuliert?", fragt er.
"Welchem?"
Er grinste.
Das leere Glas vor ihm erinnerte mich an meinen niedrigen Trunkenheitsgrad. Ich sah mich um. Die Bar war hinter der Tanzfläche und ich wollte mich nicht durch den weingeschwängerten Reigen drängen.
"Ich hol uns was", sagte ich und ging zu dem Tisch auf dem die Geschenke gehortet waren.
Die Flasche Rotkäppchen aus der Tüte zu holen war einfach. Das aufwändige Grußkärtchen ('Alles Gute von Ariane und Peter'), das mit einer Kordel um den Hals der Flasche hing, musste ich dagegen mit einem Fischmesser losschneiden. Dabei hätte mich fast Tante Gudrun gesehen, die eine Bluse trug, die an einen Tuschkasten erinnerte. Die 90er sind noch nicht aus der Mode gekommen!
Als ich die Flasche neben meinen Vater stellte, blickte er sie irritiert an. (Der Sekt an der Bar war schon vor einer Stunde aus gewesen.)
"Wo hast du die denn her?"
"Ariane und Peter."
Er stahl zwei Sektgläser vom Nachbartisch während ich lautlos den Korken entfernte. Wir stiessen an, tranken, stiessen auf, und starrten wieder fassungslos auf die Tanzfläche. 'Lady In Black' klang grade aus. Die Tanzenden lachten hysterisch.
"Verdammter Totentanz", sagte mein Vater.
Ich nickte leicht.
"Ja. Verdammter Totentanz."