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Apostile

In vino veritas

Im Wein liegt Wahrheit. Das sagt zumindest der halbwegs gebildete Volksmund. Und sogar der Wein selbst kann „ehrlich“ sein. Das habe ich letzte Woche auf einer Weinprobe gelernt. Dahinter steckt aber viel weniger, als Sie vielleicht denken. Falls Sie denken. Manche tun das ja gar nicht. Oder nur von der Wand bis zur Tapete. Schlecht ist beides. Aber zurück zum Wein. Warum also verschlägt es mich bekennenden Biertrinker zu einer bourgeoisen, pseudointellektuellen Veranstaltung, wo ich doch viel lieber mit vorn gelber, hinten brauner Unterhose an einer Bushaltestelle sitze und säuerlich aufstoße? (Soweit das Bild, das Weintrinker von Biertrinkern haben.)

Laut Einladung sollte die famose Verkostung um 19 Uhr beginnen. Ich hatte Angst, nichts mehr zu bekommen, daher kam ich nach Soldatenmanier fünf Minuten vorher. Wo es gratis Alkohol gibt, sollte man nicht zu lange auf sich warten lassen, sonst steht man am Ende vor dem tropfenden Zapfhahn und bekommt nur noch einen Schluck Schaum. Das ist beschissen, deswegen zog ich mir schon früh einen schicken Zwirn an und erfreute mich der gedrückten Stimmung der etwa fünf anwesenden Gäste. Erwartet wurden 200. Zwischen 8 und 88 Jahren. Ich hätte schon bei dieser Angabe skeptisch werden müssen.
Ich suchte mir ein Fass hinten links und versuchte, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Das ging nicht lange gut.

19.11 Uhr. „Am Anfang war…“, hörte ich eine junge weibliche Stimme hinter mir, „…der Fusel“. Eine Pinguin-Dame klaubt mein leeres Glas vom Tisch und stellt ein neues hin. Darin ist die Sprite-Wein-Panscherei, die wohl immer gereicht wird, bevor es ans Eingemachte geht. Die Kellnerin ist unansehnlich im Gesicht und fettig ums Haar. Ich schenke ihr ein Grunzen. Ich will nicht gut Wetter mit dem Personal machen, sondern Wein trinken und die Veranstaltung schnell hinter mich bringen. Leider muss ich mich zurückhalten, denn im Anschluss soll ich ein Telefoninterview mit einem Pressesprecher in San Diego führen. Elende Zeitverschiebung! Er aß zu Mittag, ich soff zu Abend. Das nennt man wohl Globalisierung.

19.46 Uhr. Die Anzahl der Gäste erhöht sich auf etwa 25. Der erste Wein wird verkostet. Zu mir haben sich zwei Mittvierzigerinnen gesetzt, die mich aufklären, dass am Anfang immer der Fusel komme. Aha. Das Prinzip einer Weinverkostung war es also, die Gäste abzufüllen, auf dass sie am Ende nur die edleren Tropfen kaufen würden. Die kamen zuletzt. Wenn die Geschmacksknospen schon tot und das Hirn schon aus ist. Clever. Die gereichten Häppchen sind eine Beleidigung für jeden Hungrigen der Welt. „Sie sollen den Magen nicht verschließen“, erklärt der Veranstalter. Nun gut. Je hungriger die Leute, desto schneller wirkt der Wein. Manche Nasen werden jetzt schon rot. Dabei sollen noch vier Weine verkostet werden. Eine Frau am Nebentisch lacht zunehmend lauter. Mein Glas ist schon wieder leer. Aber entgegen meiner Befürchtung wird es sofort ersetzt. Bei manchen Freibierparties stand ich zwanzig Minuten an, um den nächsten Schwung Pappbecher gereicht zu bekommen. Aber hier ist man wirklich erpicht darauf, die Mäuler zu stopfen. Sollte die gehobene Klasse des Alkoholismus vielleicht doch ihre Vorzüge haben?

20.30 Uhr. Der zweite Wein wird gereicht. Der Veranstalter hält wieder eine kurze Rede über das Weingut und den Geschmack der Traube. „Ein voller, freundlicher Wein“, sagt er. Ich bin stutzig. Das ist doch nur Wein. Erzählt mir Heinz von der Currybude, dass es eine freundliche Wurst ist? Wenn der so einen Mist erzählt, wird er von seiner Kundschaft verhauen. Zu recht! Hier gibt es stattdessen Beifall. Selten habe ich mich so deplatziert gefühlt. Abgesehen von dem Tag, an dem ich durch ein Missgeschick in einer Frauentoilette stand und drei ältere Damen von absurder Leibesfülle herein rollten, die mich ansahen, als wäre ich der Antichrist.
„Man kann eine Spur Zitrone herausschmecken“, sagt jemand. Ich schmecke nichts. Nur Wein. Missmutig nehme ich noch einen Schluck und verfluche den Tag mitsamt dem Abend.

21.19 Uhr. Der dritte Wein stammt aus Spanien.
„Es ist ein ehrlicher Wein.“
„Inwiefern?“, höre ich mich denken. „Hat er dir gesagt, dass deine Krawatte wie eine optische Täuschung aussieht und das Aftershave mich am Abgrund der Bewusstlosigkeit tanzen lässt?“
Aber ich sage nichts. Die etwa 50 Gäste nicken bedächtig, riechen am Wein und schlürfen und schmatzen. Einer reibt sich eloquent übers Kinn.
Die Pinguin-Dame hält mir ein Silbertablett hin. Darauf liegt Kacke.
„Was ist das?“
„Olivencreme.“
„Nein, danke.“ Die volle, freundliche, ehrliche Plörre hat meine Magenwände betäubt. Ich spüre keinen Hunger mehr. Meine kleinen Finger auch nicht. Aber das passiert mir öfter. Es ist das Zeichen, dass der Wein im fortgeschrittenen Stadium wirkt. Die Kellnerin schenkt mir ein entschuldigendes Lächeln. Sie nötigt mir ein wenig Mitleid ab. Sie kann nichts dafür, dass sie uns diesen Mist servieren muss. Aber peinlich sollte es ihr schon sein. Als die „original kubanischen Klänge“ vom Peter-Müller-Quartett [Name von der Redaktion nahezu beibehalten] wieder einsetzen, verlasse ich den Saal und stelle mich vor die Tür. Raucher werden heutzutage wie Aussätzige behandelt. Kacke essen ist gesund, aber Nikotin bringt dich unter die Erde! Verrückte Welt. Ich blase einsame Rauchringe in die Nacht.

22.01 Uhr. Das erste Glas des vierten Weins verschütte ich auf der weißen Tischdecke. Ich hatte geahnt, dass ich nicht lange unentdeckt bleiben würde. Während ich draußen war, hat jemand Brot auf den Tisch gestellt. Zu gnädig. Aber das Körbchen ist fast leer. Wie die Geier müssen sie sich darauf gestürzt haben, geifernd und sabbernd. Während der Wind meine Rauchringe fraß, fraßen sie das mickrige Brot. Eine Szene aus Polanskis „Der Pianist“ fällt mir ein – ein heruntergekommener Mann schlürft gierig eine in den Dreck gefallene Portion Linsen von der Straße. Ich lächle heimlich und werfe in einer vorgeblich unbeabsichtigten Handbewegung das Glas um. Das ist infantil, ich weiß, aber irgendwie muss man seinem Frust ja Luft machen. Und daneben benehmen darf ich mich nicht. Jedenfalls nicht zu sehr. Also muss es bei subtilen Unmutsäußerungen bleiben.
Die Pinguin-Dame tupft unbeholfen im Cabernet herum. Irgendwoher kommt eine Hand und reicht mir ein neues Glas. Was für ein Service. Am lustigsten ist, dass der Veranstalter seine freundliche, ehrliche Lobpreisung des Weines wegen der plötzlichen Hektik unterbrechen muss. Ich grinse nach innen hinein und nehme dann einen Siegerschluck aus dem frischen Glas. „Dem hast Du’s gezeigt“, gratuliert mein Gewissen, aber ich höre die Ironie heraus. Ich sehe auf die Uhr und der Veranstalter lobpreist seinen Wein weiter, als wäre er ein guter alter Freund. Was er wahrscheinlich auch ist. Eine SMS meines Chefredakteurs erreicht mich. Das Interview wird verschoben. Glück gehabt.

22.16 Uhr. Irgendwo lacht die nervtötende Frau wieder. Ihr Gelächter schallt durch den ganzen Saal und unterbricht das Gespräch zwischen der Kellnerin und mir. Sie kommt mir viel hübscher vor, als zu Beginn. Dass mich das nicht skeptisch macht, macht mich skeptisch. Aber ich kann den Gedanken nicht zu Ende bringen, weil das Drecksvieh schon wieder lacht. Als ich meinen missmutigen Blick wieder auf die Kellnerin richte, habe ich vergessen, dass ich skeptisch sein sollte und drücke ihr eine Serviette mit meiner Telefonnummer in die Hand. Auch das macht mich skeptisch. Sowas tue ich sonst nicht. Auf der Suche nach meinen Beweggründen versacke ich jedoch.

22.51 Uhr. Der letzte Wein schmeckt nach Keller. Vielleicht liegt das aber auch an der Parmesan-Oliven-Lachs-Mischung, die ich mir grade aus purem Überdruss in den Mund gesteckt habe. Selbst mit meinen abgetöteten Geschmacksknospen konnte ich noch wahrnehmen, dass ich selten so etwas Widerliches gegessen habe. Auf dem Barhocker sitzend drehe ich mich suchend nach der Kellnerin um. Eine der beiden Mittvierzigerinnen am Tisch zupft mir ein wenig Lachs aus dem Bart. Ich bedanke mich, sehe sie aber skeptisch an. Das war ein wenig zu mütterlich. Von mütterlich ist es nur ein klitzekleiner Schritt zu notgeil. „Schachmatt, Gin und Yahtzee, Señorita“, denke ich und freue mich über meinen Scharfsinn. Ich spiele mit dem Gedanken, noch einmal vor die Tür zu gehen und ein wenig zu rauchen, aber der Gedanke verfliegt zu schnell. Das Peter-Müller-Quartett verabschiedet sich und wird von schlechtem Dixieland ersetzt. „Blauzüngige Bonzen plappern behänden Blödsinn“, stabreime ich vor mich hin. Eine Frau in den 30ern versucht von ihrem Barhocker aufzustehen und fällt dabei mitsamt ihrem Nachbarn und einem Teil der Dekoration auf den Teppich. „Soweit ist es schon“, denke ich und nehme mein Glas mit nach draußen. Dort steht die Kellnerin, lautlos rauchend und von einem sakralen Schein umgeben. Der kommt von den Flutlichtern, die das Gebäude nachts anstrahlen, aber das wird mir erst am nächsten Tag klar. Eine Turmuhr schlägt elf.
„Nicht deine Party?“ Ihre Stimme klingt sehr angenehm.
„Deine Stimme klingt sehr angenehm.“ In meinem Kopf schreit jemand, dass ich so einen Mist nicht sagen sollte, bevor auch sie genug Wein getrunken hat. Von wegen >in vino veritas<. Der ehrliche Wein macht mich zu einem dämlichen Betrunkenen. Wie Stephen King in „Das Leben und das Schreiben“ sagte: Wir sehen alle ziemlich gleich aus, wenn wir in die Gosse kotzen. Da hat er recht - wovon man besoffen ist, ist scheißegal. Da kann man sich ganz vornehm mit Wein zulöten, oder ganz ordinär mit Oettinger – besoffen ist besoffen. Ich verfluche den Wein und auch das Bier und den Alkohol in seiner komplexen, ehrlichen Gänze und rauche schnell zu Ende.
„Danke“, sagt die Kellnerin. Ich habe vergessen, wofür sie sich bedankt.
„Gern geschehen.“ Was auch immer.
Kellnerin ab.

23.07 Uhr. Endstadium. Ich beschließe, nicht noch einmal reinzugehen, das Glas zu klauen und die Kellnerin zu vergessen. Der Wein ist mir inzwischen so zuwider, dass ich ihn melodramatisch in einen Springbrunnen kippe und dazu das Musikthema aus „Der Pate“ pfeife. Das Glas nehme ich trotzdem mit. Ich trage es noch immer mit mir herum, als ich in meine neu erwählte Lieblingsbar in Köln gehe, das „Zum Stiefel“, eine ranzige, billige, urige Kneipe mit Aufklebern und Postern und guter Musik. Ich stelle das Weinglas auf den Tresen und ernte einen skeptischen Blick vom Barkeeper.
„Darin liegt Wahrheit“, artikuliere ich. Der Barkeeper lächelt. Wahrscheinlich hat er meine blaue Zunge gesehen. Er öffnet mir eine braune Flasche Bier und stellt sie neben mein Glas.
„Darin noch mehr“, sagt er.
Noch nie hat ein Bier so gut geschmeckt. Und ich habe schon viele getrunken. Es muss mehr Wahrheit im Bier liegen. Zumindest für mich. Wenn ich mich beim Trinken nicht wohl fühle und mich als Person verstellen muss, um in der Gesellschaft nicht aufzufallen, kann darin nicht sehr viel Wahrheit liegen, oder? Nein, ich bin keine Bonze, kein Trinker gehobener Klasse. Für mich liegt die Wahrheit in einem schlichten Bier und einer dunklen Kneipe. Dafür entschuldige ich mich nicht. In cervisia veritas! Ich spiele kurz mit dem Gedanken, das Bier inhaltsschwanger aus dem bauchigen Weinglas zu trinken, entscheide mich aber dagegen. Stattdessen gehe ich vor die Tür, trinke mein herrliches Getränk aus herbem Hopfen, frischem Quellwasser und einer Spur Mais und werfe das Glas theatralisch auf die Straße. Infantil, ich weiß. Aber irgendwie muss man ja Statements machen. Darin liegt nämlich Wahrheit.