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Europas Twitter-Öffentlichkeit: Zersplittert und dennoch vernetzt

Frankreich ist politisch gespalten, Italien liebt Satire - und Deutsche sind zwitscherscheu. Das zeigt eine Studie, die fast 12.000 Twitter-Accounts untersucht und die Datenströme zwischen Europas politischen Twitter-Sphären sichtbar gemacht hat.

Wie farbige Nebelgalaxien sehen die Grafiken aus. Doch was sie zeigen, sind keine entfernten Regionen unseres Universums, sondern ganz irdische Entwicklungen. Welche Twitter-Accounts sind in Europa am stärksten miteinander vernetzt, wer spricht mit wem im politischen Europa, oder eben nicht? Das sind die Fragen, die hinter den Darstellungen stehen. Beantwortet wurden sie nun durch eine Studie der Universität Wien und des Marktforschungsinstiuts GfK.

Twitter habe in Europa zwar lange nicht den Stellenwert wie etwa in den USA, sagt Christian Waldheim, Globaler Chef der Social Media-Forschung der GfK. "Aber Medien zitieren immer öfter Tweets von Politikern und anderen öffentlichen Personen, wodurch Twitter in die Massenkanäle überschwappt." Und Personen des öffentlichen Interesses sind auch in Deutschland durchaus präsent, wenn es um die kurzen Nachrichten geht. Die Twitter-Leidenschaft von Peter Altmaier, Chef des Bundeskanzleramts, etwa ist bekannt. Der CDU-Politiker agiert seit 2011 sehr aktiv auf Twitter, verfasste bisher mehr als 8.000 Kurznachrichten für seine inzwischen über 65.000 Follower.

Heut früh um 1.00 habe ich aufgehört, Eure Glückwünsche einzeln zu beantworten. Kommt aber noch. Danke + auf ein weiter gutes Twitteinander!

- Peter Altmaier (@peteraltmaier) 18. Juni 2014

Dennoch sind in Deutschland insgesamt nur rund ein Prozent aller Internetnutzer auf Twitter aktiv, während in den USA mehr als zehn Prozent twittern. Spanien, England und Holland befinden sich zwischen diesen beiden Polen. Das hat laut Axel Maireder, Kommunikationswissenschaftler an der Uni Wien und Leiter der Studie, kulturelle Hintergründe: "Deutsche und Österreicher nutzen lieber Facebook, weil man dort entscheiden kann, wo man sich mitteilen möchte und wer seine Nachrichten lesen kann", sagt er.

Spitzenkandidaten der EU-Wahlen ganz vorne dabei

Berücksichtigt wurden in der Studie nur Twitter-Nutzer, die mindestens 250 Follower verzeichnen und sich in den zwei Monaten vor der Europa. Bundeskanzlerin Angela Merkel taucht in dieser Studie nicht auf - denn sie hat keinen Twitter-Account. Das Zwitschern übernimmt für sie Regierunssprecher Steffen Seibert unter @regsprecher.

450.000 Accounts werteten die Wissenschaftler und die GfK-Social-Media-Experten aus und kamen letztlich auf knapp 12.000 Top-Nutzer. Diese untersuchten sie auf das Ausmaß ihrer Vernetzung in der Twittersphäre.

Das Ergebnis: Im Zentrum des europäischen Informationsnetzwerks stehen die Twitter-Accounts des vormaligen Europa-Wahl-Spitzenkandidaten Martin Schulz (jetzt wieder Parlamentspräsident) und Jean-Claude Juncker (jetzt Kommissionspräsident). Ebenfalls bedeutsam innerhalb des Informationsstroms sind Qualitätsmedien wie die spanische El Pais und die französische Le Monde.

Britische Medien besonders gut vernetzt

Besonders britische Medien wie The Economist, BBC und Guardian dominieren allerdings die Kommunikation - allein schon wegen des Englischen als Lingua franca. Das sehen einige Journalisten und EU-Korrespondenten als Problem, weil so die britische Sichtweise in Debatten überrepräsentiert sei. Vorstellbar sei das gut, sagt auch Maireder. "Beweisen lässt sich das mit unseren Daten aber nicht."

Um das Zentrum herum wabern die nationalen Twitter-Öffentlichkeiten von Großbritannien, Deutschland, Italien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden sowie den nordischen Ländern Dänemark, Schweden und Finnland. Die Bürger in Mittelosteuropa nutzen Twitter nur spärlich und sind daher fast gar nicht vertreten.

Untereinander sei die europäische Twittersphäre relativ lose miteinander verknüpft, sagt Maireder. In den einzelnen EU-Staaten ergeben sich - wenig überraschend - viel dichtere Netze. Diese sind aber auch in Teil-Öffentlichkeiten zersplittert: In Frankreich zum Beispiel existiert eine Trennlinie zwischen dem Mainstream und der konservativen Rechten. Das heißt: Rechts und Rest bleiben vornehmlich unter sich.

"Das ist zwar Ausdruck einer Spaltung, aber kein Ausdruck der Radikalisierung. Im Gegenteil.", sagt GfK-Forscher Waldheim. "Früher hat man sich in geschlossenen Internetforen getroffen, jetzt ist man öffentlich." Dadurch komme der Durchschnittsnutzer viel eher mit anderen politischen Einstellungen in Kontakt als früher. So steht etwa die Front-National-Chefin Marine Le Pen (@MLP_Officiel) nicht mitten in der Sphäre der Rechten oder gar am Rand, sondern genau zwischen dem Mainstream und dem nationalistischen Flügel - auch weil sie europaweit viele Follower hat.

In Italien ist die Situation ähnlich, allerdings heißen die beiden Sphären hier "Mainstream" und "Blogger, Satiriker und tendenziell Linke". Fake-Accounts, Karikaturen-Zeichner und andere, die Information mit Unterhaltung verbinden, haben eine große Follower-Zahl. "Italien hat eine lange Tradition in politischer Satire", sagt Maireder. "Mit den neuen technischen Möglichkeiten kann man nun schneller bekannt werden."

In Deutschland und Österreich sind die Twitter-Sphären weniger ausdifferenziert: Um die Parteien herum bilden die technikaffinen Unterstützer der Piratenpartei sowie die eher jungen Grünen-Anhänger die einzig nennenswerten Gruppen. Ansonsten stehen im Zentrum des Zwitscherns Mainstream-Medien wie @Spiegel, @zeitonline und @tagesschau. Ähnlich diffus sieht es in Großbritannien, den Niederlanden und den Nordischen Ländern aus.

Südost-Europa während EU-Wahlen aktiver

Allerdings wurde rund um die Europawahlen eine Verschiebung sichtbar. Italien, Frankreich und vor allem Spanien widmeten diesem Thema wesentlich mehr Beachtung auf Twitter als andere EU-Ländern. Das ermöglichte den Forschern einen detaillierten Einblick zum Beispiel in die Twitter-Sphäre Spaniens. Dort kristallisierten sich viele verschiedene Cluster heraus, mit Konservativen, Liberalen, Sozialdemokraten, der 15M-Bewegung und der Region Katalonien. Eine entsprechende Untersuchung über die Twittersphäre in Österreich zeigte ähnlich deutliche Cluster-Bildungen entlang der politischen Ideologien.

Im Gegensatz dazu zeigen sich in vielen anderen Ländern Europas die Cluster zwar hauptsächlich entlang der nationalen Zugehörigkeit und der jeweiligen Sprachräume. Waldheim glaubt dennoch daran, dass Twitter und andere soziale Medien einen Beitrag zu einer echten europäischen Öffentlichkeit leisten werden. "Es ist eine der schönsten Prozesse der Demokratisierung." Die Entwicklung der Twitter-Sphäre wollen die Wissenschaftler darum auch zukünftig weiter beobachten.

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