Einmal mehr wettert Großbritannien gegen die EU. Die Briten blockieren nicht nur die Integration sondern auch ein soziales Europa. Wenn sie gehen wollen, sollen sie gehen.
Es ist mal wieder soweit: Großbritannien mokiert sich über die EU. Nach der Milliarden-Nachzahlungsforderung der Kommission donnert vor allem UKIP-Chef Nigel Farage voran und bezeichnet die EU als Vampir, der sich vom Blut britischer Steuerzahler ernähre. Der getriebene Regierungschef David Cameron hat indes um eine Dringlichkeitssitzung der EU-Finanzminister gebeten, um die Sache zu klären - wettert aber gleichzeitig mit markigen Worten gegen die Union.
Dieses britische Aufbäumen ist nur der aktuellste Streit zwischen Brüssel und London. Schließlich pflegt Großbritannien eine Oppositionskultur mit langer Geschichte.
Blockadehaltung bei sozialen Fragen1984 handelte Thatcher den Britenrabatt aus („I want my money back"), mit dem Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Die Briten sind bis heute nicht Mitglied des Schengen-Abkommens, sie blockieren mit Vehemenz eine Finanztransaktionssteuer und nur weil die Inselbewohner (sowie Tschechien) nicht mitmachen wollten, musste der Fiskalpakt außerhalb der EU-Strukturen unterzeichnet werden. So weit, so bekannt.
Weniger bekannt ist jedoch, welche sozialpolitischen Maßnahmen nicht von den Briten mitgetragen wurden.
Als Ex-EU-Kommissionspräsident Jacques Delors Mitte der 1990er-Jahre erklärte, der gemeinsame Binnenmarkt müsse auch die soziale Dimension berücksichtigen, wurden diverse Mindeststandards in der EU eingeführt: Vor allem Großbritannien hatte einen hohen Nachbesserungsbedarf was etwa Mutterschutz oder Elternzeit anbelangte. Damit waren die Briten jedoch nicht einverstanden.
Anfang der 1990er-Jahre sperrte sich Großbritannien - mit den Konservativen an der Macht - als einziges Land gegen Implementierung einer „Sozialcharta". Diese legte grundlegende Arbeitnehmerrechte unverbindlich fest, wie Urlaubsanspruch und ein Recht auf Freizeit und Erholung. Erst Ende 1990er lenkte die Labour-Regierung unter Tony Blair ein und unterschrieb.
1993 verfasste die EU-Kommission die Arbeitszeitrichtlinie, die neben anderen Schutzmechanismen eine maximale Arbeitszeit von 48 Stunden pro Woche vorschrieb. Die meisten Länder hatten ohnehin höhere Vorschriften und stimmten für die Reform. Großbritannien hingegen hatte keine Obergrenze und wollte den Entwurf blockieren. Die Kommission aber berief sich auf den Bereich „Gesundheit und Sicherheit", wodurch der Europäische Rat das Gesetz per Mehrheitsentscheid verabschieden durfte - was dann auch passierte.
Die Tory-Regierung klagte dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof - dieser aber teilte die Vorbehalte nicht. 1998 schließlich folgte Großbritannien unter Labour den Vorgaben und verabschiedete entsprechende Arbeitsgesetze: Diese bieten aber allerlei Schlupflöcher, um mehr als 48 Stunden pro Woche arbeiten zu dürfen.
Die durchschnittliche Arbeitszeit in Großbritannien liegt höher als in den meisten anderen EU-Staaten, es gibt eine Kultur der Überstunden, fast die Hälfte aller Manager leisten einen ganzen Tag pro Woche unbezahlte Extra-Arbeit.
Drohung gegen die EUAuch die aktuelle Debatte um die Nachzahlung passt zu dieser wirtschaftsliberalen Kultur: So liest man von britischen Politikern, es sei unfair, dass Großbritannien mehr bezahlen muss, weil die Wirtschaft mehr gewachsen ist.
Allerdings hat Großbritannien unter dem Labour-Premier Gordon Brown den Lissabon-Vertrag unterschrieben: In diesem steht, dass die EU eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft" sei. Doch kein anderes EU-Land sieht die Union so sehr als riesigen Binnenmarkt und klammert die soziale Dimension so sehr aus, wie es Großbritannien tut.
Die Toleranz der restlichen EU-Staaten gegenüber diesem britischen Sonderweg schwindet: Cameron konnte noch so viel herumtönen, Juncker wurde doch zum Kommissionspräsidenten gewählt. Als kleinen Trostpreis erhielt die Insel dann zwar den Finanzkommissar. Aber selbst damit waren die Briten nicht zufrieden.
Das Referendum über einen Austritt Großbritanniens, das bei einer Wiederwahl Camerons im Jahr 2017 abgehalten werden soll, soll wie eine Drohung gegenüber der EU wirken: „Entweder ihr beugt euch unserem Willen, oder wir gehen."
Doch es ist eine hohle Drohung. Sicher, die Union würde einen Nettozahler verlieren. Aber die 5,6 Milliarden Euro kann die EU durch eine Finanztransaktionssteuer oder mit dem Kampf gegen Steueroasen kompensieren.
Großbritannien hingegen würde auf der internationalen Bühne an Gewicht verlieren, auch wenn es militärisch wegen der Nato weiterhin an Europa gebunden bliebe. Die Briten würden wohl weiter am Binnenmarkt teilnehmen, dürften aber nicht mehr mitbestimmen: Ein Europa à la carte, wo sich Großbritannien die Rosinen herauspicken kann, wird die EU niemals zulassen. Die Insel würde wohl eher ein neues Norwegen als eine neue Schweiz werden.
Die Union braucht eine soziale DimensionWenn die Briten wirklich für einen Austritt stimmen würden, wäre in der EU die größte Opposition gegen eine „immer engere Union" sowie gegen soziale Gesetzgebung aus dem Weg geschafft - was vielen Europäern nicht schlecht gefallen würde: 50 Prozent der Befragten einer Eurobarometer-Umfrage erklärten, die wichtigste Aufgabe des Europa-Parlaments sei es, Armut abzubauen. Doch die EU dient derzeit hauptsächlich dem Kapital und der Wirtschaft und nicht den Menschen - die TTIP-Verhandlungen sind da nur das aktuellste Beispiel.
Die Union braucht wieder eine soziale Dimension, wie sie unter Delors in den 90er-Jahren begonnen hat. Wie Cerstin Gammelin und Raimund Löw in „Europas Strippenzieher" schreiben, liegen Entwürfe für ein soziales Europa sogar schon in der Kommission vor. Doch diese wurden von konservativen Kräften in den reichen Staaten blockiert - nicht nur von England, sondern auch von Luxemburg, Deutschland und den Niederlanden .
Es wird ohnehin ein schwerer Weg, die Armutsbekämpfung in Europa politisch durchzusetzen. Mit Großbritannien als Clubmitglied, dessen Konservative selbst bei Regulierungen wie einer 48-Stunden-Arbeitswoche aufheulen, wird es jedoch ungleich schwerer.
Die restlichen EU-Bürger dürfen sich von der Austritts-„Drohung" nicht erpressen lassen. Wenn die Briten gehen wollen, lasst sie gehen. Sie brauchen die EU mehr, als die EU sie braucht.
Am 13. November diskutiert der Autor über dieses Thema mit Handelsblatt-Online-Redakteur Jan Mallien an der Ruhr-Uni-Bochum. Mehr Informationen auf der Facebook-Veranstaltungsseite Lesen Sie weitere Meinungen aus dieser Debatte von: Guy Verhofstadt, Juliane Sarnes, Alexander Alvaro.Please enable JavaScript to view the comments powered by Disqus.comments powered by