SPIEGEL: Herr Böckem, 2015 haben Sie zusammen mit dem Drogenforscher Henrik Jungaberle "High Sein" veröffentlicht, ein Aufklärungsbuch über Drogen aller Art. Heute erscheint eine aktualisierte Version. Was hat sich in den vergangenen sechs Jahren verändert?
Jörg Böckem: Details haben sich verändert, es gibt neue Studien und Zahlen. Zum Beispiel haben mehr Jugendliche Erfahrung mit Cannabis, die WHO hat ihre Zahlen in Sachen gesundheitsschädlicher Alkoholkonsum etwas nach unten korrigiert, und weltweit haben mehr Staaten den Besitz von Cannabis entkriminalisiert.
SPIEGEL: Und die Coronapandemie, hat sie Auswirkungen auf den Drogenkonsum?
Böckem: Ja, und zwar deutlich spürbare. Die Global Drug Survey hat gezeigt, dass 43 Prozent der Befragten in der Pandemie mehr Alkohol trinken. Auch der Cannabiskonsum ist gestiegen. Diese Ergebnisse spiegeln sich im Verhalten junger Menschen: Ich habe engen Kontakt zu Beratungs- und Präventionsstellen, von dort höre ich vermehrt, dass junge Erwachsene wegen Cannabis Hilfe suchen - oder Eltern, die denken, ihre Kinder hätten einen bedenklichen Konsum.
Jörg Böckem, Jahrgang 1966, ist ein deutscher Journalist und Autor. Mit 18 wurde er heroinabhängig, hatte mehrere Rückfälle und war insgesamt 20 Jahre lang suchtkrank. Über seine Erfahrungen hat er mehrere autobiografische Bücher, die SPIEGEL-Kolumne "Therapie-Tagebuch" und das Aufklärungsbuch "High Sein" geschrieben.
SPIEGEL: Warum wird mehr gekifft?
Böckem: Das hat verschiedene Ursachen. Zum einen gibt es Menschen, die versuchen, mit Gras eine Lücke zu füllen, weil viele Dinge, die sie vor Corona gemacht haben, nicht mehr möglich sind. Das ist vor allem bei jungen Menschen ein Motiv. Es bietet sich an, vor dem Fernseher zu sitzen, zu zocken und zu kiffen, wenn man draußen keine Freunde treffen kann. Zum anderen ist ein großer Anreiz da, den momentanen Druck mit psychoaktiven Substanzen wie Cannabis zu betäuben, den Stress zu regulieren. Auch unter jungen Menschen haben psychische Probleme im Lockdown zugenommen, während gleichzeitig der Zugang zu Hilfsangeboten erschwert worden ist.
Keine Partys, kein Anlass für PartydrogenSPIEGEL: Klubs haben zu, Partys sind verboten - Orte, an denen man sonst Kokain und Co. ausprobiert. Wie hat die Pandemie den Erstkonsum verändert?
Böckem: Für Drogen wie Kokain oder MDMA fehlt der Anlass. Das sind Substanzen, die eher im Nachtleben und im sozialen Miteinander genommen werden. Wenn solche Gelegenheiten wegfallen, reduziert sich der Konsum. Jugendliche schlagen sich aktuell nicht die Nächte mit ihren Freundinnen und Freunden um die Ohren; ihre Eltern sind mehr zu Hause, die soziale Kontrolle ist größer. Das Setting für Experimente mit solchen Drogen ist aktuell eher nicht gegeben.
SPIEGEL: Gerade wurde "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" als Serie adaptiert. In acht Episoden wird eine Clique Jugendlicher begleitet - vom Haschisch zum Heroin, vom Heroin zum Tod.
"Wenn du Drogen nimmst, dann bist du tot - das ist so plump, so plakativ. Das nützt niemandem und bringt die Diskussion nicht weiter."
Böckem: Ich fand die schauspielerische Leistung gut, den Einsatz von Musik, das Drehbuch hat vieles gut gelöst. Trotzdem frage ich mich: Warum soll ich mir das heute noch anschauen? Eine Serie, bei der ich schon weiß, was passiert - wer stirbt, wer überlebt. Man hat auch nichts über Suchtentwicklung gelernt, über die Motive der Menschen, darüber, warum die einen gelegentlich Drogen nehmen und die anderen abhängig werden. Aber vielleicht ist das von einer TV-Serie zu viel verlangt. Am Ende ist jedenfalls eine Geschichte erzählt worden, die 40 Jahre alt ist. Aus einem Blickwinkel, der ebenfalls 40 Jahre alt ist.
SPIEGEL: Sie waren selbst jahrelang heroinabhängig. Schauen Sie deswegen so kritisch auf das Remake?
Böckem: Dafür gibt es einen anderen Grund. Ich engagiere mich in der Suchtprävention, unter dem Gesichtspunkt ist die Serie eine Enttäuschung. Früher hieß es: Wer mit Cannabis anfängt, der landet irgendwann bei Heroin und stirbt. Diese Erzählung sollte abschreckend wirken. Heutzutage geht Suchtprävention ganz andere Wege. Da geht es um Aufklärung, um die Vermittlung von Wissen um Wirkungen, Nebenwirkungen und Risiken. Wenn du Drogen nimmst, dann bist du tot - das ist so plump, so plakativ. Das nützt meines Erachtens niemandem und bringt die Diskussion auch nicht weiter. Leider ist die Serie aber eher dazu angelegt, dieses Klischee zu zementieren. Ich finde für uns als Gesellschaft aber wichtig, dass wir uns davon lösen.
Drogen im DeutschrapSPIEGEL: Heroin wird von Jugendlichen und jungen Erwachsenen heute kaum bis gar nicht konsumiert, das zeigt der Drogenreport der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Das Interesse an dem verschreibungspflichtigen Schmerzmittel Tilidin ist bei 15- bis 20-Jährigen hingegen zwischen 2017 und 2019 steil gestiegen.
Böckem: Tilidin ist ein Opiat, wie Heroin, mit dem man sich fürchterlich wegballern kann. Den Stoff gab es in meiner Drogenkarriere auch schon. Dann war er lange weg - und wird jetzt Jahrzehnte später wiederentdeckt.
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SPIEGEL: Deutschrapper wie Capital Bra, Samra und Gzuz haben Tracks, in denen sie über das Medikament rappen. Gibt es einen Zusammenhang?
Böckem: Welche Substanzen bei Jugendlichen populär sind, hat auch etwas mit Mode zu tun, die kommt in Wellen und ist auch an Auslöser und Vorbilder geknüpft. Wenn angesagte Musiker von Tilidin rappen, hat das natürlich Einfluss auf diese Wellenbewegung.
SPIEGEL: Also bestimmt der Musikgeschmack, welche Drogen man nimmt?
Böckem: Natürlich nicht ausschließlich. Aber Subkulturen sind oft an bestimmte Substanzen geknüpft. Subkultur hat ja immer auch mit Identitätsbildung zu tun. Genauso wie der Konsum einer Substanz. Mit der Droge wollen sich die Konsumentinnen und Konsumenten auch von anderen absetzen. Ebenso verhält sich das mit Musik, mit Freunden, mit Kleidung. Es sind alles Bausteine, die zur Identitätsfindung beitragen.
SPIEGEL: Jede Subkultur hat ihre eigenen Substanzen? Gilt also: Du bist, was du schmeißt?
"Wenn man sich ansieht, wie schwierig die Einschränkungen des vergangenen Jahres besonders für junge Menschen sind, dann erwarte ich tatsächlich einen erhöhten Nachholbedarf."
Böckem: Auf Elektro-Festivals wie dem Burning Man, der Boom oder dem Fusion-Festival wird eher LSD und Ecstasy konsumiert, bei Rockfestivals wie Rock am Ring oder Wacken sind es eher Zigaretten, Bier und Schnaps, bei Reggae-Konzerten Cannabis. Und Tilidin passt eben zum Deutschrap: Das ist ein Schmerzmittel, macht unempfindlicher, härtet sozusagen ab. Aber so einfach ist es natürlich nicht, das sind alles grobe Einschätzungen. In den vergangenen Jahrzehnten hat die klare Abgrenzung sogar abgenommen. Das liegt daran, dass Jugendbewegungen inzwischen stark fragmentiert sind - und so auch die Bindung an eine Substanz.
SPIEGEL: Wird es nach dem Ende der Beschränkungen, wenn Klubs wieder öffnen und Festivals wieder stattfinden können, zu einem großen Backlash kommen - mit wilden Partys und erhöhtem Drogenkonsum?
Böckem: Da kann ich nur spekulieren. Aber wenn man sich ansieht, wie schwierig die Einschränkungen des vergangenen Jahres besonders für junge Menschen sind - nachvollziehbarerweise -, dann erwarte ich tatsächlich einen erhöhten Nachholbedarf. Die Pandemie hat zwar die Verfügbarkeit mancher Substanzen eingeschränkt, aber auch das wird sich wieder ändern.