"Last minute ist während Corona keine gute Idee", sagt der Ticketverkäufer im Mundschutz. Um neun Uhr fing er an, Eintrittskarten für das Schloss Neuschwanstein zu verkaufen. Um 9.26 Uhr schiebt er die letzten beiden Tickets unter der Glasscheibe. Auch online waren die Eintrittskarten innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Es ist der 2. Juni, der erste Tag an dem das wohl bekannteste Schloss Deutschlands wieder geöffnet hat. Sechs Wochen lang war Neuschwanstein wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Heute dürfen nur knapp 600 Menschen das Schloss von Innen sehen, vor Corona waren es 6.000 täglich. "Tut uns leid, es dürfen nur noch zehn Personen pro Gruppenführung sein", sagt der Ticketverkäufer. Vor Corona waren es 58 Touristinnen und Touristen pro Führung - alle fünf Minuten.
Wegen Neuschwanstein kommen jährlich 1,5 Millionen Reisende aus aller Welt nach Schwangau, einem winzigen Ort im Ostallgäu mit etwa 3.300 Einwohnern. Touristen lieben das Schloss, das König Ludwig II. im 19. Jahrhundert erbauen ließ. Auch deshalb, weil Walt Disney sich davon für sein Märchenschloss im Zeichentrickfilm Cinderella inspirieren ließ. Die Silhouette von Neuschwanstein ziert bis heute das Logo von Disney. Neuschwanstein wurde millionenfach auf Souvenirs und Werbeartikeln abgedruckt und mehrfach in Freizeitparks nachgebaut. Schwangau lebt von Touristengruppen aus aller Welt, die das Märchenschloss in Echt sehen und sich davor fotografieren lassen wollen. In den letzten Wochen kam aber kaum jemand.
Auch heute stehen auf dem Parkplatz keine Reisebusse. Mitarbeiter einer Baufirma machen einen Imagefilm mit ihrem neuen Asphaltfertiger. "Wann hat man schon mal so eine Kulisse", sagt Bauleiter Andreas Köpele, 38. In den vergangenen zwei Wochen, als die Menschenmassen ausblieben, haben sie die Zufahrt zum Schloss und den Parkplatz saniert.
Die Hälfte der Übernachtungsgäste kam aus dem AuslandIn Schwangau, wo sich sonst Touristengruppen an den Läden mit Postkarten und Souvenirs drängen, laufen nur wenige Familien und Menschen in Wanderkleidung durch den Ort. Seit dem 30. Mai durften die Hotels wieder aufmachen. Im Hotel Müller serviert eine Frau im Dirndl und blauen Mundschutz Frühstück: Käse, Kochschicken, Omelett und Kaisersemmeln. Dazu einen Zettel für die Kontaktdaten, falls es einen Corona-Fall gibt. Das ist Vorschrift. Buffet gibt es im Hotel Müller nicht mehr, das verträgt sich nicht mit den Hygienemaßnahmen. Zwischen den runden Tischen steht ein Spender mit Desinfektionsmittel. Bis auf zwei Mitarbeiterinnen ist der Raum leer. Im Vorjahr übernachteten etwa 20.000 Gäste in den vierzig Zimmern des Hotels. Jährlich aßen 250.000 Gäste im Restaurant und Biergarten, am liebsten das Wiener Schnitzel mit Pommes. Sie kauften in einem der beiden Souvenirshops Schwäne aus Swarovski-Kristall und Schneekugeln mit Mini-Schloss oder ließen sich in einer der drei Kutschen zum Schloss bringen.
"Seit dem Lockdown haben wir einen Umsatzausfall von 92,5 Prozent", sagt Richard Müller, 37, der in der vierten Generation das Familienunternehmen leitet. 3,5 Millionen Euro Verlust, verglichen zum Vorjahr. Die Möglichkeit, seine Angestellten in Kurzarbeit zu schicken, habe Müller vor schlaflosen Nächten bewahrt. Er kann alle seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter behalten. "Wir haben Glück, dass es uns schon lange gibt, aber unsere Rücklagen halten nicht ewig", sagt Müller. Der Juni läuft gut an. Durch eine Rabattaktion gäbe es auch ein paar Buchungen im Juli. Das Umstellen auf einheimische Touristen ist für Müllers Hotel kein Problem. Deutsche Gäste wären schon immer gekommen. Die meisten aber aus China und den USA.
"Ganz ohne Ferntouristen wird der Sommer vermutlich nicht bleiben", sagt Stefan Fredlmeier. Er ist seit zehn Jahren Tourismusmanager der Stadt Füssen, vier Kilometer von der Gemeinde Schwangau entfernt. Er denkt, dass Reisende aus der Schweiz, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden am schnellsten wiederkommen. Italien würde wohl länger brauchen und noch länger die Überseemärkte. "Wir werden sehr sicher nicht die Übernachtungszahlen von 2019 erreichen."
Vor der Pandemie reiste die Hälfte der Übernachtungsgäste außerhalb von Europa an. Zwanzig Prozent kamen aus China - meist organisiert in Gruppen. Für viele Gäste aus asiatischen Ländern gehörte Neuschwanstein selbstverständlich zu einer Europareise dazu. Auf sie hat sich das Euro Park Hotel in Füssen spezialisiert: 13.500 Quadratmeter, 141 Zimmer, 280 Betten. Hinter dem Hotel ein großer Parkplatz, perfekt zum Parken für die Reisebusse. Zum Frühstück wurden früher Miso- und Reissuppen angeboten, abends Schweinshaxen mit Kartoffelklößen. Im Sommer 2019 hat Fabian Geyer, 32, die Leitung übernommen. Auf dem Whiteboard in seinem Büro hat Geyer mit bunten Markern Zahlen geschrieben. In Grün stehen die Einnahmen, die er sich erhofft hat, in Rot die Verluste. Für Geyer waren die Folgen von Corona früher spürbar als für seine Kollegen: Seit dem 29. Januar, dem Tag, an dem die chinesische Regierung ein Reiseverbot verhängte. Geyers Verluste sind im Millionenbereich, sagt er. Links auf die Tafel hat er einen traurigen Smiley gemalt.