Presslufthammer. Kopfgewitter. Eispickel. Es gibt viele Bilder, mit denen Migränepatienten ihre Schmerzattacken beschreiben. Irene Nixdorf vergleicht sie mit einer Dampfwalze, wenn das Drücken auf der Stirn langsam zu einem brutalen Pochen wird. Die Walze rollt alles nieder, bis sich der Schmerz pulsierend in die Schläfe bohrt. Dann weiß Irene Nixdorf, dass er für die nächsten drei Tage bleiben wird.
Wenn sich die 49-jährige Altenpflegerin aus Erfurt dann bewegt, wird ihr übel. Helles Licht, Gerüche und laute Geräusche werden zur Folter. Am liebsten würde Nixdorf die Migränetage einfach ausknipsen. In ihrem Schmerzkalender waren früher in manchen Monaten bis zu 15 Tage angekreuzt, an denen sie Kopfschmerzen hatte und Medikamente dagegen einnahm. Das entspricht der Definition einer chronischen Migräne.
Der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet „halber Schädel", was symptomatisch für das Leiden steht: als ob der Schädel in Stücke zerspringt. Gleichzeitig weist das Wort darauf hin, dass die Beschwerden einer Migräne meistens nur eine Kopfhälfte betreffen.
„Migräne hat sehr eindeutige Symptome", sagt Kasja Solbach, Leiterin des Westdeutschen Kopfschmerzzentrums, das zum Uniklinikum Essen gehört. Ein Anfall dauert zwischen vier Stunden und drei Tagen an. „In dieser Zeit hat die Migräne die Betroffenen voll im Griff", erklärt Solbach. Etwa jeder Zehnte erlebt eine sogenannte Aura, wenn sich ein Anfall anschleicht: Vor den Augen tanzen plötzlich Lichtblitze umher.
Laut einer Studie des Kopfschmerzzentrums leiden 18 Prozent der Deutschen zumindest hin und wieder unter Migräne. Zum massiven Problem wird sie, wenn sie chronisch ist. Das ist bei etwa einem Prozent der Bundesbürger der Fall, bei Frauen mehr als doppelt so häufig wie bei Männern. Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft schätzt, dass es in Deutschland jeden Tag zu 350 000 Migräneanfällen kommt.
Was genau während einer Attacke im Kopf geschieht, haben Forscher bis heute nicht vollständig enträtselt. Eine gängige Theorie beschreibt Migräneschmerzen als Notschalter, der den Körper zur Ruhe zwingt. Auch zwischen zwei Anfällen tickt das Gehirn von Migränikern anders als das von Gesunden. Die Wahrnehmung und Verarbeitung von Außenreizen ist verstärkt. Das Hirn steht ständig unter Spannung, saugt alles auf und kann schlecht zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden. Kommt eine zusätzliche Belastung hinzu, seien es Stress, Schlafmangel oder hormonelle Schwankungen, ist der Kopf überlastet. Die Reizverarbeitung kollabiert.
In ihrer Not schütten Nervenzellen eine Überdosis an Botenstoffen aus, darunter das Hormon Serotonin. Die Hirnhautgefäße weiten sich, und es kommt dort zu einer entzündungsähnlichen Reaktion. Die Nervenfasern laufen heiß. In der Hirnhaut sitzen besonders viele Schmerzrezeptoren, die nun gereizt sind. Weil das pulsierende Blut gegen die entzündeten Gefäßwände drückt, äußert sich die Migräne mit rhythmisch pochenden Schmerzen. Bis der Körper seine Schutzmechanismen hochgefahren hat, vergehen bis zu 72 Stunden. Noch Tage später ist der Körper vom Kampf gegen den Schmerz ausgelaugt.
Mittlerweile haben Wissenschaftler ein Dutzend Genabschnitte entdeckt, welche die Wahrscheinlichkeit für eine Migräne erhöhen. Von der Suche nach Puzzle-Teilen im Erbgut profitieren Patienten bislang aber wenig. Umso wichtiger ist es, persönliche Faktoren zu finden, die einen Anfall auslösen.
„Die Trigger für eine Migräneattacke sind individuell ganz unterschiedlich“, erklärt Andreas Straube, Leiter der Kopfschmerzambulanz am Universitätsklinikum der LMU München. Der wichtigste Auslöser sei Stress. So würden Stadtmenschen häufiger über Migräne klagen als die Landbevölkerung, Gymnasiasten öfter als Hauptschüler. Gerade bei Kindern verzeichneten Studien zuletzt einen rasanten Anstieg an Migränediagnosen.
Ob bei bestimmten Wetterlagen mehr Menschenunter Anfällen leiden, ist unter Ärzten umstritten. Genauer belegt ist der Zusammenhang zu hormonellen Schwankungen. Kurz vor der Menstruationsblutung sinken sowohl der Östrogen- als auch der Progesteronspiegel, was bei vielen Frauen Migräneattacken auslösen kann. Bestimmte Nahrungsmittel fallen als Kopfschmerz-Beschleuniger dagegen aus. Dies gilt auch für die häufig verdächtigte Schokolade.
Migräniker haben Hang zum Perfektionismus
Zwar mangelt es an Beweisen dafür, dass viele Migräniker einem bestimmten Persönlichkeitstypus entsprechen würden. Aus seiner Erfahrung in der Kopfschmerzambulanz erkennt Straube bei ihnen aber immer wieder einen Hang zum Perfektionismus: „Viele Patienten sind übertrieben leistungs- und pflichtbewusst. Vielen fehlt die Fähigkeit, auch mal nein zu sagen.“
Wenn man Irene Nixdorf zuhört, charakterisiert sie sich selbst ganz ähnlich. „Ich bin eine Pedantin. Am liebsten gebe ich 200 Prozent, damit alles passt.“ Wenn in der Arbeit ein Kollege ausfiel, übernahm die Pflegerin jahrelang ohne Klagen dessen Schicht. Den permanenten Druck nahm sie irgendwann nicht mehr wahr. Er erhöhte sich weiter, wenn Nixdorf gerade unter einer Migräneattacke litt. „Statt Ruhe und Entspannung zu suchen, habe ich noch mehr gegeben. Ich wollte mir beweisen, dass ich trotz Migräne dieselbe Leistung bringe.“ Zu groß war die Angst davor, als Drückebergerin oder neurotischer Jammerlappen abgestempelt zu werden.
Migräneschmerz ist kaum erklärbar
„Wie sich eine Migräne anfühlt, können Gesunde kaum nachempfinden“, sagt die Neurologin Kasja Solbach. Es sei nicht damit getan, ein Aspirineinzuwerfen. „Wir haben gute Therapiemöglichkeiten, die viele Patienten aber nicht erreichen, weil selbst manch ein Mediziner zu wenig über Kopfschmerzen weiß“, beklagt Solbach. Obwohl Millionen Menschen darunter litten, seien Kopfschmerzen nicht entsprechend als Krankheit anerkannt.
Irene Nixdorf hat deutlich weniger Schmerzepisoden in ihrem Kalender markiert, seitdem sie Betablocker einnimmt. Warum die Blutdrucksenker Migräneanfällen vorbeugen, wissen Mediziner ebenso wenig wie bei Antidepressiva, die ebenfalls präventiv wirken. Beides war eher ein Zufallsfund.
Dies ist eine gekürzte Version des Artikels. Lesen Sie in der Ausgabe FOCUS-GESUNDHEIT "Schmerz" mehr über wirksame Therapien gegen Migräne zur multimodalen Schmerztherapie und Fibromyalgie.