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Es ist nun schon das zweite Weihnachten ohne Oma

"Wir waren keine Flüchtlinge. Wir waren Heimatvertriebene"

Bald ist Weihnachten und es ist nun schon das zweite Weihnachten ohne Oma. Wenn ein enger Verwandter oder Freund stirbt, sind die einfachsten Dinge kompliziert. Ich war alleine in Halle, als mich Papa anrief, habe versucht einen Bus zu buchen und noch schnell eine Studienleistung zu erbringen, um anschließend sofort in Landshut zu sein. Irgendwie saß ich dann trotzdem erst zwei Tage später im Bus und die Studienleistung habe ich nie erbracht. Wie dem auch sei. An mir war es bald, mich um Omas Lebenslauf zu kümmern, den der Pfarrer in der Kirche verlesen durfte. Die Lebensdaten haben meine Eltern, Onkeln und Tanten geschrieben, ich sollte den Lebenslauf nur noch sprachlich auf Vordermann bringen. Das war komplizierter als gedacht - denn Oma war Flüchtling.

Ehrlich gesagt weiß ich nicht viel über Omas Leben. Klar, die letzten zwanzig Jahre habe ich miterlebt. Wie viel Zeit ich als kleines Kind mit ihr verbringen durfte, fällt mir erst jetzt nach und nach auf. Viele ihrer Sprichwörter und Verhaltensweisen habe ich übernommen und in manchen Situationen ist es so, als stünde sie neben mir und würde sagen, was sie immer gesagt hat.

Ich erinnere mich noch genau, wie wir - ich dürfte in etwa fünf Jahre alt gewesen sein - in einem Freizeitpark waren und gemeinsam im Schwanenkarussell fuhren und wenige Zeit später Oma ins Krankenhaus musste. Und noch im Krankenhaus haben Oma und ich über einem Prospekt des Freizeitparks beschlossen, wieder in den Freizeitpark zu fahren, wenn Oma wieder gesund ist. Das Prospekt habe ich heute noch. Gesund genug für den Freizeitpark wurde sie nie. Ich erinnere mich noch an die vielen Kuraufenthalte. Für mich waren Besuche von Omas Kuren immer ein Erlebnis - Wochen später habe ich immer noch den Springbrunnen von dort gemalt und nichts anderes mehr. Die Gesundheit hat lange schon nicht mehr mitgemacht. Aber egal wie es ihr ging: Gelacht, gescherzt und getröstet hat sie immer. Und nicht zu vergessen: Sie war die beste Verbündete, die man sich vorstellen konnte im gemeinsamen Kampf gegen Mamas Erziehung. Bei Oma durfte ich alles.

Oma wohnte im selben Haus wie ich, im Erdgeschoss. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, war zu Grundschulzeiten immer mein erster Weg zu Oma in die Küche. Dann wurde die Zeitung gelesen (Seite 1-3, Politik und Medien; schon damals kein Sport). Ich habe zwar nur wenig in den Zeitungen verstanden, aber früh übt sich, wer mal Politikstudent werden will. Irgendwann muss ich dann das Internet für mich entdeckt und verstanden haben, dass unsere Lokalzeitung auch nur die dpa-Meldungen vom Vortag druckt (Schon ironisch, dass sich ein so totes Blatt vor allem durch Todesanzeigen finanziert. Ich bin kurz davor eine Crowdfunding-Kampagne zu starten für eine Todesanzeige über die Landshuter Zeitung in der Landshuter Zeitung). Mit der Entdeckung des Internets wurde langsam aber sicher die Oma-Zeit weniger. Auch war Oma immer häufiger im Krankenhaus und aus der Ferne konnte ich in Warschau, Frankreich, Spanien und Halle oft kaum nachvollziehen, ob sie schon wieder entlassen war oder schon wieder zurück im Krankenhaus. Irgendwie wollte sie auch nicht verstehen, dass das Telefonieren aus dem Ausland heute gar nicht mehr so teuer ist und dass sie nicht nach wenigen Minuten auflegen muss...

Wenngleich der Kontakt mit der Zeit weniger wurde, habe ich dennoch oft nachgefragt, Oma, wie war das damals, wie war das für dich. Mit dem Erzählen kam sie nie weit. Und hier beginnt - jetzt aber wirklich - die Geschichte, die ich erzählen möchte.

Geboren wurde Oma 1941 in Schönfeld, dem heutigen Chřibská in dem Gebiet, das man Sudetenland nennt, im heutigen Tschechien. Die Stadt hat, wie ich mittlerweile weiß, eine eigene Homepage und es gibt nette Videos über die Stadt. Zwei Männer stellen darin die Stadt zu den Klängen von The Calling - "Wherever You Will Go" vor. Besonderes Highlight: die Siegerehrung des Kegelclubs. Ich habe wohl Stunden damit verbracht die Gegend auf Google Street View zu betrachten. Die Sächsische Schweiz ist eine malerische Gegend und jetzt möchte ich dort wandern gehen.

Wenn Oma ihre Geschichte erzählte, kam sie nie weit. Im Alter von vier Jahren wurde sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder von Haus, Hof und Heimat vertrieben. Nicht einmal ihre Puppe durfte sie mitnehmen, selbst ihre Puppe haben ihr die Soldaten mit Gewehr weggenommen. Nicht einmal die Puppe, die Soldaten... An dieser Stelle begann Oma immer schon zu weinen.

Es ist gewissermaßen absurd einen erwachsenen Menschen weinen zu sehen über eine Puppe. Aber dieser Moment und seine Folgen hat Omas Leben radikal beeinflusst. Mit dem Zug der Vertriebenen landete sie in Arnstorf, wo man sie auf einem Bauernhof einquartierte. Die Mutter musste hart auf dem Hof arbeiten, um meine Oma und ihren Bruder zu ernähren, und sobald sie konnte, musste meine Oma mitarbeiten. Sieben Jahre dauerte es noch, bis dann ihr Vater, von dem kaum mehr als Haut und Knochen übrig waren, aus der Kriegsgefangenschaft zurück kam. Sieben Jahre! Der Mann war ein Fremder und wollte nun Herr im Hause sein.

Er fand schließlich Arbeit und konnte 1954 ein Anwesen bei Landshut kaufen und den Hof aufbauen. Oma musste bei allem mithelfen.

Ich habe mir Omas Geschichte über die Jahre hinweg versucht zusammenzupuzzeln. Nach der Szene der Vertreibung hat sie nur noch geweint und alles durcheinander erzählt.

Omas Lebenslauf endet hier natürlich noch nicht. Die prägendste Zeit ihres Lebens ist aber sicher schon enthalten. Ich habe also geschrieben, dass Oma Flüchtling war und der Text für die Beerdigung ging dann an Omas Bruder, zum fact checking sozusagen, denn er kennt Oma schließlich am längsten.

"Einen Fehler habe ich gefunden", hat er dann gesagt, "Wir waren keine Flüchtlinge. Wir waren Heimatvertriebene."

Mich hat es verwundert, warum ein Heimatvertriebener nicht auch ein Flüchtling sein sollte und andersherum. Wer vertrieben wird, flieht vor all dem Schrecken, den er zu fürchten hätte, würde er bleiben. Und wer flieht, verliert seine Heimat unfreiwillig. Beide Begriffe sind irgendwie richtig. Warum also dann zwischen ihnen unterscheiden?

Wikipedia sollte mich zwar nicht eines Besseren belehren, aber immerhin: aufklären. Den Begriff "Vertriebene" gibt es in keinem anderen Land der Erde als feststehenden Begriff. Wozu also gibt es ihn in Deutschland? Um die Spreu vom Weizen zu trennen. Guter Flüchtling, schlechter Flüchtling sozusagen. Oder anders gesagt: Guter Heimatvertriebener, schlechter Flüchtling.

Oma wurde in der Schule von anderen Kindern lange ausgeschlossen, weil sie ein Flüchtling war. Irgendwann wollte sie deswegen nicht mehr in die Schule gehen. Wie also integriert man all diese Menschen, die aus dem Osten kamen? Diese Frage stellte sich der Politik und eine Partei hat sich dazu sehr schlaue Gedanken gemacht: die CSU. Eine Erfindung: Der Begriff "Heimatvertriebene", was nicht so negativ besetzt war wie "Flüchtling" - was allerdings auch bewusst Juden ausschloss, die ausgewandert, ja geflüchtet waren, und die zurück in ihre Heimat Deutschland wollten. Heimatvertriebene? Antisemitische Kackscheiße!

Die andere Erfindung: "Flüchtlingswahlkreise". Weil Bayern die meisten Flüchtlinge aufnahm, wollte man extra Wahlkreise für Flüchtlinge einführen, um auf die Art und Weise mehr Einfluss auf Bundesebene in Deutschland zu gewinnen. Die Flüchtlinge haben im Gegenzug überwiegend der CSU ihre Stimmen gegeben. Die Flüchtlingswahlkreise kamen nie, dennoch: Kluger Schachzug - lange später konnte man wohl noch auf diese Stimmen zählen. 17,7 Prozent aller Menschen in Bayern waren damals Flüchtlinge, eine enorme Integrationsleistung, die zu der homogenen bayerischen Bevölkerungszusammensetzung führte, die sich bis heute noch einig darüber ist, wo sie ihr Kreuzchen zu setzen hat. In Bayern sind alle gleich, zumindest alle, die mit am Biertisch sitzen.

Das Bayern der CSU konnte erst entstehen durch die Integration von Flüchtlingen. Heimat wurde zum wohl wichtigsten Begriff des Freistaats. Da heißt die Telenovela " Dahoam is dahoam " und ein Ministerium für Heimat gibt es auch.

Jetzt tönt aus bayerischen Radios wieder der Senderclaim "Weihnachten dahoam". Kurz bevor dann in den Nachrichten über die Debatte der Flüchtlingskriminalität berichtet wird als könnten nur Flüchtlinge kriminell sein und als wären alle Flüchtlinge Kriminelle.

Meine Oma war Flüchtling. Meine Oma war nicht kriminell. Meine Oma hatte ihre Heimat verloren. Wie so viele Menschen, die nach Deutschland kommen. Die in ein Land kommen, das so viel stärker ist als das Land, das noch meine Oma aufgenommen hat.

Der Krieg hat Oma geprägt, ihr Leben lang, und Oma hat mich geprägt. Ich finde, jeder Mensch hat ein Recht auf Heimat. Darauf, sich niederzulassen und sich ein Leben aufzubauen mit Arbeit und Freunden und einer Wohnung, in der man sich wohlfühlt. So wie es Oma getan hat.

Jeder hat ein Recht auf Heimat. Heute wie damals.

Der Pfarrer hat nicht mehr viel verändert am Lebenslauf. Nur den letzten Satz. Nun heißt es: Am vergangenen Donnerstag kehrte sie in ihre himmlische Heimat zurück.

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