Kayvan Samadi gründete während der Demonstrationen im Iran ein medizinisches Netzwerk, um Verwundete zu behandeln. Er überlebte 21 Tage im Foltergefängnis, floh anschließend nach Deutschland - und lebt jetzt in Frankreich. Ein Interview von Sophie Tiedemann.
Herr Samadi, Sie kommen aus der Provinz West-Aserbaidschan im Westen des Irans. Wie sah Ihr Leben dort aus?Ich bin in Sino aufgewachsen. Das ist eine kleine Stadt in Kurdistan nahe der türkischen und irakischen Grenze. Dort leben etwa 40 000 Menschen. Die Stadt ist von Bergketten umgeben. Es gibt Kirsch- und Apfelplantagen. Wie viele andere Familien in Sino, war auch meine Familie in der Landwirtschaft tätig und hat Obst angebaut.
Im Iran leben etwa zehn Millionen Kurden. Ayatolla Khomeini, Anführer der Islamischen Revolution 1979, erklärte den kurdischen Kampf zur antiislamischen Verschwörung. Die Vereinten Nationen berichteten, dass Kurdinnen und Kurden einen unverhältnismäßig hohen Anteil der politischen Gefangenen und Hingerichteten im Iran ausmachen. Wie haben Sie die Situation erlebt?Von Kindesbeinen an erzogen mich meine Eltern mit einem Fokus auf Freiheit und Demokratie. Das ist in vielen kurdischen Familien im Iran so üblich - denn sie wollen die Zerstörung ihrer Identität, Kultur und Sprache verhindern. Das iranische Regime betrachtet uns als Feinde. Sie wollen, dass wir uns assimilieren. Seit meiner Kindheit bewundere ich Nelson Mandela für seinen Kampf gegen die südafrikanische Apartheid. Zu meinen kurdischen Idolen gehört außerdem Abdul Rahman Ghassemlou.
... einstiger Generalsekretär der Demokratischen Partei Kurdistan-Iran, der 1989 in Österreich am Verhandlungstisch mit Iran ermordet wurde. Die Tatverdächtigen tauchten in der iranischen Botschaft in Wien unter und konnten schließlich zurück in den Iran reisen. Ghassemlou hatte sich für ein autonomes Kurdistan und einen demokratischen Iran eingesetzt. Wie haben Sie sich politisiert?Als Jugendlicher begann ich, mich für die Rechte kurdischer Lastenträger einzusetzen: Menschen, die Waren wie Kühlschränke oder Fernseher über die schneebedeckten Bergketten im Grenzgebiet zwischen dem Iran und dem Irak transportieren. Häufig werden sie von iranischen Grenzschützern verwundet oder erschossen. Sie beschuldigen sie, Drogen und Waffen für kurdische Separatisten zu schmuggeln. Ich hatte bereits angefangen, Medizin zu studieren und verarztete ihre Verletzungen. Dann fingen die politischen Repressionen gegen mich an. Ich wurde mehrmals vorgeladen und sogar mündlich der Universität verwiesen. Das Islamische Regime weiß, dass ich Menschen zusammenbringen kann, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Deshalb übten sie immer stärkeren Druck auf mich aus.
Am 16. September 2022 starb Jina Mahsa Amini, die ihren kurdischen Namen Jina verwendete, im Polizeigewahrsam. Sie wurde von der sogenannten Sittenpolizei festgenommen, weil sie angeblich ihr Kopftuch falsch trug. Ihr Tod löste massive Proteste aus. Wie haben Sie die ersten Tage der Demonstrationen erlebt?Am 19. September, also zwei Tage nach Jinas Beerdigung, kam es zu riesigen Protesten in den kurdischen Städten Saqqez, Sanandaj und Divandareh. Dutzende Menschen wurden verletzt und es gab bereits die ersten Toten. Gemeinsam mit drei Freunden verfolgte ich die Situation. Wir alle kamen aus dem medizinischen Bereich und begannen uns auszumalen, wie die Proteste auch auf andere Städte übergreifen würden. Für uns stand fest: Sollten die Demonstrationen auch Sino erreichen, dann müssten wir unsere Pflicht erfüllen und den Verwundeten helfen.
Schließlich strömten auch in Sino die Massen auf die Straßen, um gegen das Mullah-Regime zu demonstrieren. Gemeinsam mit Ihren Freunden gründeten Sie daraufhin ein medizinisches Hilfsnetzwerk, die Rote Sonne.Wir waren alle vorbereitet auf das, was kommen würde. Schließlich wussten wir von der massiven Gewalt, mit der die Sicherheitskräfte in den anderen Städten gegen die Demonstranten vorgegangen waren. Die Demonstrationen fanden meistens nachts statt. Wir nahmen unsere Erste-Hilfe-Materialien mit und gingen auf die Straße. Viele Menschen in Sino kannten uns schon durch unsere Arbeit mit den verletzten Lastenträgern.
Die Regimekräfte antworteten mit brutaler Gewalt und eröffneten schließlich das Feuer auf die Protestierenden.Es war eine Tragödie. Vier Menschen wurden ermordet. Einer von ihnen war lediglich 16 Jahre alt. Wir hatten es außerdem mit einer extrem hohen Anzahl an Verletzungen durch Plastikgeschosse zu tun, die tiefe Wunden verursachen. Man zielte von hinten auf die Protestierenden. Einige der Verletzungen waren wirklich entsetzlich. Ich erinnere mich an einen verheirateten Familienvater. Wir mussten 46 Gummigeschosse aus seinem Rücken entfernen. Ich bin sicher, dass er einige der Geschosse immer noch in sich trägt. Sie steckten so tief in seinem Körper, dass wir uns nicht trauten, sie heraus zu operieren, weil wir seine Arterien nicht verletzen wollten. Außerdem waren unsere Ressourcen limitiert. Um die exakte Tiefe dieser Geschosse herauszufinden, hätten wir ihn röntgen müssen. Dazu fehlten uns die Geräte. Und die Krankenhäuser, die ihm hätten helfen können, waren zu der Zeit unter der Kontrolle der Sicherheitskräfte. Das Regime weigerte sich, verwundeten Demonstranten eine medizinische Behandlung zu gewähren. Stattdessen nahmen sie die Verletzten fest. Einige von uns boten also ihre Hilfe innerhalb der Stadt an, andere fuhren in umliegende Dörfer, um dort Verletzte zu behandeln. Wir taten alles, was wir konnten. Aber unser Team war sehr klein, anfangs nur zu viert, und es gab sehr viele Verwundete. Schließlich erweiterten wir unser Netzwerk. Mittlerweile besteht es aus vielen Gruppen in vielen verschiedenen Städten.
Die Proteste„Jin, Jiyan, Azadî" - so lautet der kurdische Slogan der Revolution im Iran, auf Deutsch „Frau, Leben, Freiheit". Nach dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 kam es zur größten und längsten Protestwelle im Iran seit der Islamischen Revolution im Jahr 1979.
Die Regimekräfte gingen mit außerordentlicher Gewalt gegen die Demonstranten vor. Seit Beginn der Proteste sollen mehr als 20 000 Menschen festgenommen und mindestens 500 Menschen getötet worden sein. Die Dunkelziffer der Ermordeten könnte weit höher liegen.
Mehr als ein Jahr später sind die Proteste auf den Straßen abgeebbt. Nach wie vor leisten viele Menschen jedoch subtilen Widerstand, darunter zahlreiche Frauen, die sich weiterhin weigern, den Hidschab zu tragen. Im September hat das iranische Parlament ein umstrittenes Gesetz gebilligt, das bei wiederholter Missachtung der Kleidervorschriften des Regimes hohe Geldstrafen und bis zu 15 Jahre Haft vorsieht.
Am 28. Oktober verstarb in einem Teheraner Krankenhaus erneut eine junge Iranerin, die kein Kopftuch trug und deshalb Berichten von Menschenrechtlern zufolge von der sogenannten Moralpolizei angegangen worden war.
Wenige Tage später zirkulierten Videos auf YouTube und X (vormals Twitter), die jubelnde Menschenmassen zeigten: „Sino ist frei!" Der Bevölkerung war es gelungen, die Sicherheitskräfte des Regimes vorübergehend zu vertreiben. Wie erlebten Sie die darauffolgende Nacht?Sino war die erste Stadt seit der Islamischen Revolution 1979, die in die Hände des Volkes fiel. Es gelang uns, eine ganze Nacht lang in einer Stadt zu leben, die nicht vom Regime der Mullahs kontrolliert wurde. Diese Botschaft sandten wir nicht nur an die umliegenden Städte, sondern an den gesamten Iran: Das Regime kann gestürzt werden! Meiner Meinung nach war das ein Wendepunkt in der Jina-Revolution.
Doch die Repressionen kehrten mit voller Wucht zurück. Am 24. September kamen die Regimekräfte zurück nach Sino und begannen, Menschen zu verhaften - auch Sie.Ich wurde in ein verstecktes Gefängnis gebracht, das vom iranischen Geheimdienst kontrolliert wurde. Dort verbrachte ich 21 Tage in Isolationshaft. Die Sicherheitskräfte nutzten verschiedene Foltermethoden, um ein Geständnis zu erzwingen. Sie verbrannten meine Körperbehaarung und fügten mir Stromschläge an den Genitalien und am Kopf zu. Sie schlugen mich mit Peitschen und Rohrstöcken. Wenn sie über meine Familie und mich sprachen, nutzten sie die vulgärsten Worte. In meiner Zelle hatte ich eine Decke. Außerdem befand sich dort eine Toilette. Aber es war sehr kalt und es gab nichts, womit ich mich hätte waschen können.
Gegen eine Kaution wurden Sie freigelassen und führten Ihren medizinischen Einsatz für die Rote Sonne fort. Schließlich flohen Sie nach Europa.Ich floh zu meinem Bruder nach Hamburg. Mein psychischer und mein körperlicher Zustand nach den Ereignissen im Iran machten es mir unmöglich, alleine zu bleiben. Ich wusste nicht, dass ich in dem Land Asyl beantragen müsste, in dem ich mich zuerst aufgehalten hatte. Nach Monaten der Flucht und des Versteckens begann ich in Deutschland ein Asylverfahren. Ich fing an, mithilfe von YouTube-Tutorials Deutsch zu lernen. Dann erreichte mich ein Brief, der mich über die Dublin-Regelung informierte. Ich legte Widerspruch ein. Wir waren gerade dabei, meinen Fall vor Gericht zu prüfen. Schließlich bekam ich einen Termin im Oktober, um meine Ausweisdokumente verlängern zu lassen. Ich war gerade in der Ausländerbehörde angekommen und hatte mich hingesetzt. Dann nahmen mich Sicherheitskräfte mit und setzten mich in einen Bus nach Frankreich.
Wie haben Sie Ihre Abschiebung erlebt?Die Sicherheitskräfte im Bus konfiszierten mein Handy. Als ich sie fragte, ob ich meinen Arzt oder meinen Bruder kontaktieren könne, lehnten sie ab. Mein Handy gaben sie mir erst zurück, als wir Hamburg verlassen hatten. Ich rief meinen Bruder an und bat ihn, mich aus der Situation herauszuholen. Er sagte, dafür sei es bereits zu spät. Daraufhin bekam ich eine Panikattacke. Einer der Sicherheitsmänner verdrehte meine Hand und hielt sie fest. Sie nahmen mir erneut mein Handy weg. Ich fragte nach einem Arzt, weil ich starke Schmerzen hatte. „Egal, was ist - wir bringen dich nach Frankreich", antworteten sie. Also hielt ich die Schmerzen aus. Nach acht Stunden konnte ich die Hand endlich einem Arzt zeigen. Glücklicherweise haben mir dann Freunde dabei geholfen, einen Schlafplatz in Frankreich zu finden.
Was bedeutet die Abschiebung für Ihren politischen Aktivismus?Ich denke, dass sich das Mullah-Regime über meine Abschiebung aus Deutschland freuen würde. Die Islamische Republik weiß, dass ich die Rote Sonne ins Leben gerufen habe und dass ich im Vorstand einer weiteren kurdischen Menschenrechtsorganisation sitze: Kurdpa, ein Netzwerk, das Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Die Abschiebung kommt angesichts meines psychischen und körperlichen Zustands dem Knebeln meiner Stimme gleich. Die deutsche Regierung ist sich bewusst, dass die Islamische Republik größter Unterstützer und Geldgeber der Terrorgruppe Hamas ist, die ganz Israel und Palästina in eine humanitäre Katastrophe gestürzt hat. Meiner Meinung nach sollte sie alles dafür tun, dass es in Kurdistan zu keiner Katastrophe kommt. Meine Abschiebung aus Deutschland sorgt nicht dafür, dass es dort einen Flüchtling weniger gibt - sondern sie hilft der Islamischen Republik, kurdische Menschen zu unterdrücken.
Gibt es etwas, das Sie sich von der deutschen Öffentlichkeit wünschen?Ich wünsche mir von den Menschen in Deutschland, dass sie ihre gewählten Politiker fragen, wieso sie Folteropfer und jene, die kurdische Stimmen repräsentieren, abschieben. Ich fordere sie auf, sich an die Seite der Jina-Revolution zu stellen, um gemeinsam für den Sturz der Islamischen Republik zu sorgen - und auf diese Weise für eine sicherere Welt für uns alle einzustehen.