Selma Jahic, eine Überlebende des Genozids von Srebrenica, über ausradierte Dörfer, verharmlosende Berichterstattung und ihren Kampf dafür, dass die Toten nicht vergessen werden. Ein Interview von Sophie Tiedemann.
Frau Jahic, Sie kamen 1988 in Srebrenica zur Welt und wuchsen in einem nahegelegenen Dorf auf. Wie sahen Ihre ersten Lebensjahre aus?Es war ein einfaches Leben. Meine Familie, die seit Generationen dort lebte, hatte einen kleinen Hof mit ein paar Nutztieren. Religion war kein Thema. Niemand galt als anders, denn in der Kultur war es so verankert: Wir Muslime und Christen auf dem Balkan lebten seit hunderten von Jahren nebeneinander. Es war ein angenehmes Leben.
Nachdem Bosnien und Herzegowina 1992 seine Unabhängigkeit von Jugoslawien erklärt hatte, besetzten die Jugoslawische Volksarmee und die von ihr unterstützten Truppen der Republika Srpska weite Teile des Landes. Zu diesem Zeitpunkt waren Sie vier Jahre alt. Wie erlebt man als Kind den Beginn eines Krieges?Als Kind bekommt man erst einmal nur die direkten Auswirkungen mit: Granateneinschläge, tote Menschen, und dass dein Zuhause auf einmal zerstört ist. Diese Umstellung nimmt man als Kind hin. Man hat ja keinen Einfluss auf das Geschehen.
Schon bald erreichte der Krieg auch Ihren Heimatort. Immer wieder mussten Sie sich mit Ihrer Familie verstecken.Wenn unser Dorf bombardiert wurde, sind wir oft in ein nahegelegenes Dorf in den Hügeln geflohen. Dort war es sicherer, denn die Granaten sind dort schwerer hingekommen. Als es ruhiger wurde, sind wir zurückgekehrt und haben versucht, unsere Häuser zu reparieren. Mit alten Plastikplanen haben wir Fensterscheiben ersetzt. Wenn Granaten Teile der Hauswände herausgeschlagen hatten, haben wir die entstandenen Lücken mit Heu ausgestopft. Dann haben wir versucht, wieder ein paar Nutztiere zusammenzufinden. Im Mondschein und wenn es neblig war, haben wir unsere Felder bestellt.
Die Zufluchtsstätte tausender Bosniaken während des Krieges war Srebrenica, eine der wenigen freien Enklaven im Osten des Landes. Nach zahlreichen Angriffen auf Zivilisten in Srebrenica entschloss sich die internationale Gemeinschaft, einzuschreiten. Im April 1993 erklärte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Stadt zur UN-Schutzzone. Wie hat Ihre Familie diese Nachricht aufgenommen?Wir dachten, das wäre der Anfang vom Ende. Dass der Krieg nicht mehr lange dauern würde und wir bald in unser Zuhause zurückkehren könnten. Wir haben uns über die Ankunft der UN-Truppen gefreut. Wir Kinder konnten wieder zur Schule gehen und es wurden mehr Lebensmitteltransporte nach Srebrenica gelassen.
Trotzdem griffen serbische Truppen die Stadt an. Am 11. Juli 1995 erklärte Ratko Mladic, Oberbefehlshaber der Armee der Republika Srpska, den Fall von Srebrenica. Tausende Zivilpersonen flohen zum UN-Stützpunkt in Potocari. Sie erhofften sich Schutz durch die niederländischen Blauhelmsoldaten. Wie haben Sie den Fall von Srebrenica erlebt?Meine Mutter, mein Bruder und ich befanden uns in einem anderen Teil unseres Dorfes. Ein Soldat der bosnischen Armee kam zu uns gerannt und schrie meine Mutter an, was zur Hölle wir noch dort machen würden. Ob sie nicht mitbekommen habe, dass Srebrenica gefallen sei. Dass sie uns schleunigst nach Potocari in das UN-Hauptquartier bringen müsse. Meine Mutter hat uns dann frische Kleidung angezogen und etwas zu Essen eingepackt. Wir kamen in Potocari an. Es stürmten Menschenmassen rein. Dann kam die Nachricht: „Die Serben sind da." Die Leute schrieen, dass sie uns umbringen würden. Plötzlich standen sie vor uns.
Was dachten Sie in dem Moment, als damals Siebenjährige?Wir Kinder dachten immer, das wären Monster. Wir haben nie das Wort „Serbe" gehört. Es war immer die Rede von „Tschetniks", also paramilitärischen serbischen Faschisten. In unserer Vorstellung waren das Monster mit Hörnern, die aus Wäldern kommen, um Menschen umzubringen und sie zu entführen. Aber auf einmal standen Menschen vor mir. Es war überhaupt nicht glaubwürdig für mich. Ich habe eine große Erleichterung gespürt und sagte zu meiner Mutter: „Schau mal Mama, das sind keine Monster. Das sind Menschen!"
Dann begannen die serbischen Nationalisten, bosniakische Männer und Jungen von ihren Familien zu separieren.Vor uns haben sie einen älteren Mann von seiner Ehefrau getrennt. Der Mann hat die Soldaten noch angefleht. „Bitte lasst mich zurück, meine Frau ist krank. Sie schafft den Weg nicht." Sie lachten ihn aus und antworteten: „Keine Sorge, du findest deine Frau in der Drina." Die Drina ist der Fluss, der Bosnien und Serbien teilt. Wir sind dann zu einem Militärtransporter geführt worden. Mit etwa sechzig Leuten zusammengedrückt saßen wir dort drinnen. Irgendwann ist er stehengeblieben und der Fahrer sagte uns, wir sollten den Weg weiterverfolgen, bis wir auf unsere Truppen stoßen. Irgendwann erreichten wir also Soldaten aus der bosnischen Armee und später ein Flüchtlingslager in Tuzla. Da wussten wir noch nicht, was mit den anderen geschehen ist. Aber die Leute, die nach uns kamen, erzählten Horrorgeschichten aus Srebrenica.
Der GenozidAm 6. Juli 1995 begann die Armee der Republika Srpska ihren Angriff auf Srebrenica - also auf die Stadt, die zwei Jahre zuvor zur Schutzzone der Vereinten Nationen erklärt worden war. Auf ihrem Weg dorthin verbrannten die serbischen Nationalisten ganze Wohngebiete.
Tausende Bosniaken flohen nach Potocari, denn dort befand sich in einem Fabrikgebäude das Hauptquartier der rund 400 niederländischen Blauhelmsoldaten. Sie waren mit dem Schutz von Srebrenica beauftragt.
Der später als Kriegsverbrecher verurteilte Ratko Mladic erklärte am 11. Juli den Fall von Srebrenica mit den Worten: „Wir übergeben diese Stadt an die serbische Nation." In der darauffolgenden Nacht begaben sich mehr als 15 000 Bosniaken auf den so genannten „Todesmarsch". Sie versuchten, durch die Wälder zu fliehen und den serbischen Truppen zu entkommen. Die meisten von ihnen wurden ermordet.
Im vollkommen überfüllten Potocari begannen die serbischen Nationalisten alsbald, bosniakische Männer und Jungen von ihren Familien zu trennen. Mehr als 8300 von ihnen brachten die serbischen Truppen systematisch um.
Insgesamt verloren im Bosnienkrieg mehr als 100 000 Menschen ihr Leben. Für mehr als 90 Prozent der begangenen Kriegsverbrechen waren nationalistische Serben verantwortlich.
Innerhalb der darauffolgenden Tage zwangen die Soldaten der Republika Srpska mehr als 8300 Bosniaken in umliegende Lagerhäuser, Schulen und auf Felder. Dort brachten sie die Menschen systematisch um.Mein Großvater ist nicht durchgekommen. Sein Name war Suljo Jahic. Mein Onkel, Rešo Delic, der eine geistige Behinderung hatte, auch nicht. Auch die Verwandten, die sich gemeinsam mit etwa 15 000 weiteren Menschen auf den so genannten „Todesmarsch" durch die Wälder begaben, um den serbischen Truppen zu entkommen, sind nicht durchgekommen. Wir haben Woche um Woche gewartet. Aber am Ende waren es sehr wenige, die es geschafft haben. Von Tuzla aus flohen wir dann nach Wien. Einen Weg zurück nach Srebrenica gab es für uns nicht mehr. Wir mussten das Land verlassen.
Um ihre Verbrechen zu vertuschen, haben die Täter die menschlichen Überreste in Massengräbern verscharrt. Der Genozid von Srebrenica ist mit dem größten forensischen DNA-Identifikationsprojekt der Geschichte belegt - die Suche nach Vermissten dauert bis heute an. Kann man so überhaupt anfangen, zu trauern?Ich glaube, der Zeitpunkt, an dem ich wirklich zur Ruhe kommen kann, ist, wenn man alle gefunden und beerdigt hat. 2007 haben sie meinen Großvater gefunden. Das hat sehr viele Wunden aufgerissen. Nach seiner Beerdigung haben wir in jedem darauffolgenden Jahr einen Verwandten beerdigt. Bis nicht alle Überreste gefunden worden sind, ist da immer noch ein kleiner Funken Hoffnung. Dass dieser Mensch aus irgendwelchen Gründen überlebt hat und sich nicht melden kann. Aber sobald der Brief vom Roten Kreuz kommt mit der Beileidsbekundung, bricht noch einmal eine Welt zusammen. Man verliert diesen Menschen ein zweites Mal. Darauf folgt dann ein neuer Prozess. Denn man will natürlich herausfinden, wer diese Person umgebracht hat. Und dann versucht man sich dafür einzusetzen, dass diese Aufklärung auch für andere vermisste Personen vorgenommen wird. Es nimmt nie ein Ende.
Sie haben sich schließlich ein Leben in Österreich aufgebaut. Wie war es für Sie, nach Kriegsende, Ihr Heimatdorf in Bosnien zu besuchen?Ich erinnere mich an das erste Mal. Das war etwa 2009. Ich war voller Vorfreude. In mir lebte noch der Irrglaube, dass dort alles so aussieht wie vorher. Als meine Eltern und ich dort ankamen, erlitt ich einen Nervenzusammenbruch. Man kommt dorthin, und man hört nichts. Da sind keine Menschen. Die Häuser sind zerstört. Da, wo einst unser Haus stand, unser Dorf - da stand überhaupt nichts mehr. Alles war ausradiert. Als wären wir nie da gewesen. Hinzu kam: Ein serbischer Nachbar ist in dieses Dorf zurückgekehrt. Über ihn erzählte man, dass er während des Krieges mitgemacht habe. Er wollte unbedingt mit meinem Vater reden. Mein Vater hat das abgelehnt. Bei mir ist in diesem Moment innerlich etwas gerissen. Ich habe Schwarz gesehen. Da war so eine Wut in mir. Und dann waren da nur noch Tränen. Danach konnte ich nicht mehr nach Bosnien fahren. Jedes Mal, wenn meine Eltern es vorschlugen, fing mein gesamter Körper an zu zittern. Als ich später begann, innerhalb meiner Familie über meine Erinnerungen zu sprechen, beruhigte es sich langsam.
In der Vorstellung von uns Kindern waren die Serben Monster mit Hörnern, die aus Wäldern kommen, um Menschen umzubringen und sie zu entführen. Aber auf einmal standen Menschen vor mir.
Selma Jahic Wie fühlt es sich heute für Sie an, in Srebrenica zu sein?Jedes Mal, wenn ich das Srebrenica Memorial Center besuche und die Schwelle des Friedhofs übertrete, weine ich. Es fühlt sich an, als würde mich jemand würgen. Dann ist da solch eine Sehnsucht in mir: Ich will dort bleiben. Andererseits verspüre ich einen Fluchtreflex, weil ich Angst habe. Denn ich weiß ja, was dort passiert ist. Und dann ist da noch der ganze Schmerz. Darüber, was alles hätte werden können, wäre all das nicht passiert. Wie wunderschön dieser Ort hätte sein können, wären diese Gräueltaten den Menschen nicht angetan worden. Wie viel Potenzial dort gewesen wäre. All die Geschichten. Auf einmal alles ausradiert. Du siehst dann nur noch diese Leere: Wälder, Wiesen, Ruinen. Überall dort haben einst Familien gelebt, viele Generationen von Menschen, die ausgelöscht worden sind.
Der ehemalige Hohe Repräsentant in Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, erwirkte dort eine Gesetzesänderung. Seit zwei Jahren ist das Leugnen des Genozids in Bosnien und Herzegowina strafbar. Eine Entscheidung, die in der serbischen Entität des Landes, der Republika Srpska, Protest erntete.Ich finde das Gesetz gut, es war längst überfällig. Aber die Menschen in der Republika Srpska müssen diese Kriegsverbrechen von alleine anerkennen. Und auch dieses Gesetz hätte innerhalb der Republika Srpska entstehen müssen, anstatt von außen diktiert zu werden. Wenn man weiterhin Politiker an der Macht hat, die davon leben, den Hass weiter zu schüren, wird sich nichts ändern. Die heutige Generation lebt in dem gleichen Trauma, in dem gleichen Koma wie wir. Sie kommen nicht weiter, weil ihnen falsche Helden eingetrichtert werden. Helden, die eigentlich Massenmörder sind. Es ist ein Teufelskreis. Wenn nicht jemand in der Familie oder in der Schule aufsteht und sagt: „Mit mir endet das. Ich mache das nicht mehr mit", dann ändert sich nichts.
Was wünschen Sie sich heute, 28 Jahre danach, von einer westeuropäischen Öffentlichkeit hinsichtlich des Gedenkens an den Genozid von Srebrenica?Ich wünsche mir, dass die europäischen Länder die pro-bosnischen Kräfte mehr unterstützen, anstatt jene, die versuchen, an dem Fundament des Staates Bosnien und Herzegowina zu rütteln: wie Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, der eng mit Autokraten wie (dem ungarischen Ministerpräsidenten, d. Red.) Viktor Orbán zusammenarbeitet. Innerhalb Europas muss man pro-europäischen Kräften den Rücken stärken. Ich bin Zeitzeugin. Ich weiß, was passieren kann, wenn man Politiker einfach machen lässt. Viele versuchen, das zu verharmlosen. Sie sagen, das sei nur Gerede, die Politiker würden nichts tun. Das haben wir auch geglaubt. Bis Granaten auf unser Haus fielen. Ich wünsche mir, dass wir Europäer ein klares Zeichen setzen gegen faschistische und nationalistische Kräfte. Und es ist mir wichtig, dass man die Namen der Ermordeten sagt. Denn das beweist, dass sie existiert haben.