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„Man muss halt tun, was man tun muss, um die eigenen Leute zu retten"


Als die Deutschen an einem Spätsommertag im Jahr 1941 Krementschuk überfielen, war Natali Tomenko noch nicht auf der Welt. Aber die Geschichten ihres Großvaters, die von der verheerenden Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten in ukrainischen Dörfern und Städten erzählen, begleiten sie seit Lebensanfang.

Ein weiß verputzter Neubau in Kreuzberg an einem verregneten Winterabend. Ein Mann schließt seinen Blumenladen. Die vorbeigehenden Menschen ziehen ihre Kapuzen tief in die Stirn. Im Hinterhof des Gebäudes prangt ein Graffiti an einer Backsteinwand: “Für alle Opfer des Faschismus” steht dort in hellen Buchstaben. Das Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma befindet sich im dritten Stock. Stimmengewirr dringt bis ins Treppenhaus. Die Atmosphäre ist festlich, der Anlass ein besonderer: Eine kleine Gruppe ukrainischer Rom*nja stellt hier die Kunstwerke aus, die sie im Laufe der letzten Monate produziert hat. 


Ein riesiges Transparent ziert den Eingang. Bomben sind hier eingezeichnet, “Schau in diese Hölle” steht in großen schwarzen Buchstaben auf hellem Stoff. Daneben sind die Werke der Künstlerinnen ausgestellt. Sie haben darin ihre Flucht verarbeitet, das Heimweh und die Erinnerungen an die ersten Tage des Krieges.

Unter den Personen, die sich im nächsten Moment vor dem Transparent fotografieren lassen, sticht eine besonders hervor. Sie trägt ein schwarzes Kostüm, hat wallendes dunkles Haar. Ihre beiden Nebenfrauen hält sie fest mit den Armen umschlossen. Natali Tomenko ist Künstlerin, Aktivistin, Wissenschaftlerin und gerade einmal 28 Jahre alt. Als Kuratorin hat sie die Teilnehmerinnen darin bestärkt, ihr Innerstes aufs Papier zu bringen. “Das Trauma wird sie ein Leben lang begleiten. Aber die Kunst macht es erträglicher”, erzählt Natali. Erschöpft sei sie, aber das zähle jetzt nicht. In erster Linie sei sie dankbar, dass sich die Arbeit der vergangenen Monate endlich auszahlt. Die Erschöpfung merkt man ihr nicht an: wird sie angesprochen, ist ihre erste Reaktion auf die andere Person ein warmes Lächeln. Sie unterhält sich mit Aktivistinnen und führt Mitarbeiter des Zentralrats für Sinti und Roma durch die Ausstellung. Später, im Gespräch zu zweit, erzählt sie liebevoll von ihren jüngeren Schwestern, die sie “meine Kinder” nennt.  Zwischendurch klingelt ihr Handy: “Das ist wichtig, da muss ich kurz rangehen”.

Natali Tomenko stammt aus Krementschuk. Eine Industriestadt im Zentrum der Ukraine, die auf eine bewegte Geschichte zurückblickt. Wenige Monate nach der Oktoberrevolution hissen hier die vorrückenden Bolschewiken die rote Fahne. In Fabriken werden fortan Eisenbahnwaggons zusammengeschraubt, Arbeiter stampfen Straßen aus dem Boden. Später, während des Kalten Krieges, lässt Chruschtschow hier die 43. Division der sowjetischen Raketengruppen stationieren. Geteilt wird die Stadt durch den Fluss Dnipro. Heute treffen sich im Sommer an seinen bewaldeten Ufern Familien und blicken vom Strand aus auf die Stahlträgerbrücke, die die Stadt in Ost und West teilt.

An dieser Stelle, zwischen den Ufern seiner Heimatstadt, entkommt Vasil Tomenko, Natalis Großvater, vor wenigen Jahrzehnten nur knapp dem Porajmos: dem Verschlingen, wie der Völkermord an der europäischen Rom*njabevölkerung auf Romanes heißt. Als die Deutschen sich im September 1943 nach zwei Jahren der grausamen Besatzung auf dem Rückzug aus Krementschuk befinden, brennen sie alles nieder, was sie hinter sich lassen. Auch die Brücke, die Ost und West der Stadt verbindet, wollen sie sprengen – zu genau dem Zeitpunkt, als der damals zweijährige Vasil Tomenko friedlich in dem Waggon liegt, den sein Vater gerade von ein paar Pferden ans andere Flussufer ziehen lassen möchte. Mit den Nazis kollaborierende ukrainische Hilfspolizisten hatten bereits festgestellt, dass es sich bei Vasil und seinem Vater um Roma handelt. Mit gezückten Gewehren drängen sie die beiden ans Flussufer. Doch Vasil und sein Vater haben Glück: Einer der Deutschen läuft auf sie zu. Ein paar Minuten hätten sie, um ihr Leben zu retten, ruft er. In den Familienlegenden heißt es bis heute, er habe sich bei dem Anblick des kleinen Jungen an seine eigenen Kinder erinnert. Vasil und sein Vater entkommen also dem Genozid, dem auf europäischem Boden etwa eine halbe Million Sinti*zze und Rom*nja zum Opfer fallen.

1994. In Krementschuk kommt die kleine Natali zur Welt: als erstgeborene Tochter, umgeben von liebenden Eltern und Großeltern. Im gleichen Jahr garantiert Russland der Ukraine, ihre Souveränität zu achten. Das Foto davon, wie Bill Clinton, Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk mit einem Handschlag das Budapester Memorandum besiegeln, ziert die internationalen Schlagzeilen.

“Familie ist das Wichtigste. Das wurde mir von meinem ersten Lebenstag an beigebracht”, erzählt Natali. Sie spielt Theater, sie malt und tanzt. Ihr größter Fan: der eigene Großvater: “Für ihn stand seit meiner Geburt fest, dass ich diejenige bin, die ihr eigenes Leben gestalten muss, um ein glücklicher Mensch zu werden.”

Als Jüngste in der Klasse wird Natali schließlich eingeschult: “Meine Eltern hatten Angst, dass ich mich sonst langweilen würde.” Ihre erste Klassenlehrerin unterrichtete bereits ihren Vater, war vertraut mit der Familie Tomenko, die schließlich schon seit Generationen in Krementschuk wohnte. So fängt sie schon im ersten Lebensjahrzehnt an, das zu tun, was später zu ihrer Passion werden wird: Sie spielt. 


In Theaterstücken spielt sie die Hauptrollen, im Kunstunterricht füllt sie das Papier mit den buntesten Farbkombinationen: “Wenn ich mich visuell ausdrücke, dann kann ich damit der ständigen familiären Kontrolle entgehen. Ich erschaffe mir damit einen Raum, der nur mir gehört. Und in diesem Raum kann ich tun und lassen, was ich will”, erzählt Natali und ihr Blick schweift in die Ferne.

Dieser Raum ist später, im Jahr 2015, die Charkiwer Kunstakademie. Angemeldet dafür hat sie der Großvater Vasil. Seitdem hat die junge Frau aus Krementschuk kaum noch eine ruhige Minute: Sie arbeitet von Projekt zu Projekt, macht sich nebenbei einen Namen als Aktivistin gegen Antiromaismus. In ihrer Kunst setzt sie sich mit ihrer eigenen Familienhistorie auseinander, die der von hunderttausenden Rom*nja in der Ukraine ähnelt. Es ist eine Geschichte des Versteckens vor den Deutschen und vor der ukrainischen Hilfspolizei, von der seitens der sowjetischen Führungen aufgezwungenen Assimilation, von der in den 2000er Jahren wieder aufflammenden rechtsextremen Gewalt gegen Rom*nja in der Ukraine und von den unzähligen rassistischen Bemerkungen im Alltag: “Täglich fragen mich Menschen, ob ich ihnen die Zukunft vorhersagen kann. Mein ganzes Leben lang muss ich mir schon Fragen wie diese anhören. Erst wurde ich wütend. Später sogar richtig aggressiv. Das hat mich politisiert”, erzählt sie und es ist das erste Mal im Gespräch, dass sich ihre Stimme ein wenig überschlägt. 


Fakt ist, dass Rom*nja zu den am meisten marginalisierten Minderheiten in der Ukraine gehören. Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu rassistischen Pogromen, 2018 ermordete ein Rechtsextremer einen jungen Rom in Lwiw. In Kyiv brannten Rechtsextreme im selben Jahr eine ganze Rom*nja-Siedlung nieder. Die Anerkennung der Opfer des Porajmos läuft auch in der Ukraine nur schleppend voran. Erst im Jahr 2016 weihte das ukrainische Kulturministerium das Denkmal für die ermordeten Rom*nja in Babyn Jar ein, einen Pferdewagen aus Stahl – ähnlich dem Wagen, in dem Natalis Großvater einst dem Porajmos entkam.

In der Ukraine klopft Natali an die Türen von Menschen, die den Porajmos als Kinder überlebten. Auf Video zeichnet sie ihre Geschichten für die kommenden Generationen auf: “Ich bin überzeugt davon, dass meine zukünftigen Kinder in einer besseren Gesellschaft aufwachsen werden.” Die verschiedenen Erinnerungen, die ihr die Überlebenden anvertrauen, verbildlicht sie. Später stellt sie ihre Werke in Budapest aus. Eines davon erzählt die Geschichte ihres inzwischen verstorbenen Großvaters, Vasil.

Am 03. März 2022, genau eine Woche nachdem Russland seinen Angriffskrieg vom Osten der Ukraine auf den Rest des Landes ausweitet, versammelt sich Familie Tomenko im Wohnzimmer. Lange wird der Beschuss nicht andauern, da sind sich die Eltern, die drei Töchter und die beiden Großmütter sicher. Als sich die drei Schwestern schließlich entscheiden, am nächsten Abend mit dem Auto gen Westen zu fahren, gehen sie noch davon aus, dass sie in wenigen Wochen zurückkehren werden. “Ich trug einen Jogginganzug, nahm ein paar Sweatshirts mit, Unterwäsche, meinen Pass, mein Handy”, erinnert sich Natali. In ihrem einstigen Kinderzimmer steht eine Kommode, auf der sie verschiedene orthodoxe Ikonen sammelt. “Ich suchte nach etwas, das mich begleiten könnte. Ich entschied mich also für eine kleine Ikone, die ich vor ein paar Jahren von einer Reise aus Straßburg mitgebracht hatte.” Natali bettet alles Persönliche ins Politische ein. Die Details ihres eigenen Lebens sieht sie als ein Stück Mosaik innerhalb einer größeren Zeitgeschichte. So auch den winzigen Glücksbringer, der sie seither begleitet: “Die Ikone gehört zu meinem eigenen kulturellen Erbe”, meint sie. “Obwohl sie ja überhaupt nichts mit der Ukraine an sich zu tun hat.” Bis heute verkörpert der kleine Gegenstand für Natali ihr verlorenes Zuhause. Er steht für sie selbst, die ständig reist und unterwegs ist. Und er erinnert sie an den kühlen Frühlingsabend, an dem sie sich mit einer kleinen Sporttasche ins Auto setzt und vor den russischen Bomben flieht, die nur wenige Monate später mitten in ein gut besuchtes Einkaufszentrum in Krementschuk einschlagen werden.

Seither gibt es ein Davor und Danach. Das Danach sieht so aus: Natali evakuiert Tag und Nacht gefährdete Roma-Familien aus der Ukraine und organisiert Hilfslieferungen. Nebenbei kümmert sie sich um ihre jüngeren Schwestern und um ihre Nichte. Sie kontaktiert Überlebende des Porajmos, die sich jetzt, 80 Jahre danach, wieder in Kellern verstecken müssen: “Womit haben diese Menschen so ein Leben verdient?”, fragt sie aufgebracht und ihr steigen Tränen in die Augen. Die meisten von ihnen wollen nicht fliehen. “Aber wenn sie sich doch dafür entscheiden, dann sind wir da für sie, bringen sie sofort raus aus der Ukraine.” Sie versucht, Familien davon zu überzeugen, trotz des unerträglichen Heimwehs nicht in ihre Heimat zurückzukehren. Sie organisiert das zivilgesellschaftliche Forum ukrainischer Romn*ja und richtet Appelle an Rom*nja in Russland. Sie hat sich für ein Stipendium beworben, um in Heidelberg zu antiromaischem Rassismus zu forschen, und hat es bekommen.

“Ich bin müde”, sagt Natali und schüttelt leicht mit dem Kopf. Zu Beginn des Krieges war da die große Wut. Über all die Ungerechtigkeit, das Warum, die sinnlose Zerstörung. Über das doppelte Trauma, das vor allem ukrainische Rom*nja noch sehr lange begleiten wird. “Mein Großvater war ein Kind des Krieges. Jetzt ist meine Nichte ein Kind des Krieges. Und das wird sich auf sie anders auswirken, als auf andere ukrainische Kinder. Eben durch unsere Familienhistorie.” Aus ihrer Wut konnte Natali anfangs Energie schöpfen. Aber davon ist mittlerweile nicht mehr viel übrig. “Alles, was vor dem Krieg wichtig war, macht jetzt keinen Sinn mehr. Das einzige, was jetzt noch zählt, ist, dass die Leute um dich herum gesund und am Leben sind.”


Sie schwärmt von der Resilienz ukrainischer Rom*nja: “Die übernehmen gerade unglaublich viel Verantwortung. Sie managen ihre Familie komplett alleine, dadurch, dass viele ihrer Männer jetzt an der Front sind.” Und sie freut sich auf das Romani-Rose-Fellowship, dessen Vertrag sie vor wenigen Tagen unterzeichnet hat: benannt nach dem Bürgerrechtsaktivisten, der 1980 für eine Aufarbeitung des Porajmos in den Hungerstreik trat. In seiner Geburtsstadt Heidelberg gibt es ein Institut für Antiziganismus, an dem Natali forschen wird.

Im letzten Jahr habe sie zu viel ihrer eigenen Gesundheit geopfert, meint Natali. Es sei an der Zeit, endlich ein bisschen zur Ruhe zu kommen. “Aber man muss halt tun, was man tun muss, um die eigenen Leute zu retten.” 

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