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„Sie haben mich unter dem Bett herausgezogen"

Im Zweiten Weltkrieg verschleppte die Wehrmacht Tausende Menschen aus den besetzten Ostgebieten für die Zwangsarbeit. Erst Jahrzehnte später brechen einige von ihnen ihr Schweigen.

Von Sophie Tiedemann

Ukraine und Belarus, 1941. Wehrmachtssoldaten greifen Jugendliche auf offener Straße auf, brechen nachts in ihre Häuser ein und trennen sie von ihren Familien. Die Besatzer zwingen sie in Güterwaggons und schicken sie auf eine mehrtägige Reise nach Deutschland. Als sogenannte Ostarbeiter:innen kommen 14 000 dieser Jugendlichen schließlich in Dessau an. Dort müssen sie in den Junkerswerken die Kampfgeräte produzieren, mit denen die Nazis einen grausamen Vernichtungskrieg gegen ihr Heimatland führen.

Viele von ihnen ließen durch grausame Lebensbedingungen, Hinrichtungen und die alliierten Luftangriffe ihr Leben in Deutschland. Andere überlebten - und schwiegen jahrzehntelang über ihr erlittenes Leid. Denn in der Sowjetunion warf man ihnen vor, für den Feind gearbeitet zu haben. In Deutschland sollte es Jahrzehnte dauern, bis man das Verbrechen der Zwangsarbeit anerkannte.

Im Jahr 2000 gründete die Bundesregierung gemeinsam mit Hunderten deutschen Unternehmen die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Einstige Zwangsarbeiter:innen konnten bis zum 31. Dezember desselben Jahres einen Antrag auf Entschädigung stellen. Dazu brauchten sie jedoch Nachweise. Für viele eine Herausforderung: Aus Angst vor Ausgrenzung und Verfolgung in ihrer Heimat hatten sie häufig direkt nach der Rückkehr alles, was ihr Schicksal hätte beweisen können, vernichtet.

Rund 60 Jahre nach ihrer Verschleppung senden Hunderte einstige Ostarbeiter:innen Briefe an das Stadtarchiv Dessau. Auf mehrseitigen Briefen schreiben einstige Verschleppte ihre Erinnerungen nieder. Sie hoffen, eine Entschädigung beantragen zu können. Viele von ihnen verbringen ihren Lebensabend in großer Armut. In den Briefen brechen sie erstmals ihr Schweigen.


 Die Verschleppung „1941 bin ich 16 Jahre alt geworden. Ich wohnte in einer sehr armen Familie, wir überlebten die Hungerjahre 1933 wie durch ein Wunder. Ich war bis dahin doch noch nirgendwo, wir waren arme Leute." Lubow Kotez, Pawlograd, Ukraine „Als ich erfuhr, dass die Deutschen Kinder fangen und nach Deutschland schicken, habe ich mich unter meinem Bett versteckt. Aber sie kamen in unser Haus, haben mich sofort gefunden, unter dem Bett herausgezogen und zu den Autos geschleppt." Sinaida Krejewa Petrowna, Gomel, Belarus „Ich feierte meinen Schulabschluss. Da wurde uns erklärt, dass der Krieg begonnen hatte. Am 15. Mai 1942 haben die Polizisten mich und alle anderen, die in meiner Straße wohnten, festgenommen." Polina Petruchka Pylypiwna, Tscherkassy, Ukraine „Ich, Anna Karkanitsa, bin im Jahre 1931 im Dorf Shilino in Belarus geboren. Ich war noch ein kleines Mädchen, aber mein Leben war da schon schrecklich. Wir wurden von unseren Eltern getrennt und in einem Schuppen zusammengetrieben. Die Nazis haben die Kinder, die sie für ihre Arbeit brauchten, ausgewählt." Anna Karkanitsa, Sigulda, Lettland „Als die Autos voller Kinder und Jugendlicher waren, wurden wir zur Bahnstation gebracht. Es war stickig, stinkend und wehmütig." Sinaida Krejewa Petrowna, Gomel, Belarus „Bis nach Brest fuhren wir mit der Kutsche. Dort wurden wir in einen Güterzug verladen. Wir durften nicht aus dem Wagen aussteigen, deshalb wussten wir nicht, wohin wir fuhren. Meine gesamte Familie wurde verschleppt. Schon viele Jahre versuche ich, eine Bestätigung dessen zu erlangen, aber man antwortet mir, alle Archive seien zerstört worden." Jewgenija Michailowna Adamenko, Berezan, Ukraine „Wir wurden wie Vieh in die Waggons eingeladen und zuerst nach Magdeburg gebracht, danach kam ich nach Dessau." Lubow Kotez, Pawlograd, Ukraine „Dort wurden wir ausgeladen. Auf uns haben Bauern gewartet, die einige von uns mitgenommen haben. Meine Nachbarinnen und ich kamen in das Junkerswerk." Polina Petruchka Pylypiwna, Tscherkassy, Ukraine Das Leben in Deutschland „Wir wurden in die von Stacheldraht umzäunte Baracke in der Nähe vom Werk gebracht. In einem Zimmer schliefen 18 Menschen, die Betten waren dreistöckig und aus Holz. Der Arbeitstag dauerte von 6 bis 18 Uhr." Polina Petruchka Pylypiwna, Tscherkassy, Ukraine „Die Wachen, die uns im Lager bewacht haben, haben uns nachts geweckt und mit kaltem Wasser übergossen. Wir haben geweint und geschrien. Sie haben laut gelacht." Olga Gontscharowa Iwanowna, Antrazyt, Ukraine „An die Aufseher im Werk kann ich mich nicht genau erinnern. Aber da ist allerlei passiert. Ich habe Schläge ins Genick bekommen und auf die Hände." Sinaida Kirejewa Petrowna, Gomel, Belarus „Ich habe in einer Flugzeugfabrik in Dessau gearbeitet, habe Flugzeugteile hergestellt. Zu essen gab es Kohlrüben und Brot mit Sägemehl." Olga Gontscharowa Iwanowna, Antrazyt, Ukraine „Es waren hauptsächlich sowjetische Mädchen, die an der Pulverabfüllung arbeiteten. Sie waren älter als ich und arbeiteten mit Glasschutz. Nichtsdestotrotz hielten sie nicht länger als zwei Monate aus. Dann erkrankten sie an Tuberkulose und starben." Jewgenija Michailowna Adamenko, Berezan, Ukraine „In den Schraubstöcken sollten wir Kinder Aluminiumplatten in 1-cm-Streifen schneiden. Außerdem sollten wir Blut für deutsche Soldaten spenden, die an der Front waren. Die Aufseherinnen beobachteten uns auf Schritt und Tritt. Noch heute erinnere ich mich daran, dass man sie „Volksdeutsche" nannte." „OSTARBEITER-ERLASSE"

Im gesamten Deutschen Reich arbeiteten etwa drei Millionen sogenannte Ostarbeiter, die meisten von ihnen stammten aus der Ukraine. Sie mussten in der deutschen Industrie, aber auch in Haushalten und auf Bauernhöfen schuften. In der nationalsozialistischen Ideologie galten Sowjetbürger:innen als „jüdisch-bolschewistisch verseucht" und als „Untermenschen".

Für die Arbeiter:innen aus dem Osten galten deshalb rassistische Sondergesetze, die sie von Zwangsarbeiter:innen anderer Nationen unterschieden. Diese Gesetze waren in den sogenannten Ostarbeiter-Erlassen festgehalten, die Heinrich Himmler, Leiter der SS, im Jahr 1942 herausgab. Dazu gehörte beispielsweise, dass sowjetische Zwangsarbeiter:innen jederzeit ein Stoffabzeichen mit dem Schriftzug „OST" tragen mussten.

Kontakt zur deutschen Bevölkerung war ihnen strengstens untersagt, die Arbeits- und Lebensbedingungen waren deutlich schlechter als die von anderen Zwangs- arbeiter:innen, selbst kleine Vergehen wurden strengstens geahndet. Neben den grausamen Bedingungen in Deutschland erlebten viele Ostarbeiter:innen insbesondere die alliierten Luftangriffe als traumatisch. Denn für sie war es verboten, Zuflucht in deutschen Bunkern zu suchen.

Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hatte Josef Stalin mit den Alliierten die Zwangsrepatriierung aller Sowjet- bürger:innen nach Kriegsende vereinbart. Das betraf auch die Ostarbeiter:innen. In sowjetischen Filtrationslagern erlebten sie demütigende Untersuchungen, einige wenige kamen in den sibirischen Gulag. Der Vorwurf: „Kollaboration mit dem Feind". st

Anna Karkanitsa, Sigulda, Lettland „Wir alle hatten an der linken Brust ein Zeichen: ,Ost'. Es hieß, dass wir Russen sind. Als wir zur Arbeit durch Kolonnen mit Hunden geführt wurden, haben Schulkinder uns „Russenschweine" hinterhergerufen. Wir sahen ja auch aus wie Schweine." Lubow Kotez, Pawlograd, Ukraine „Wir haben sehr gehungert. Mein Kumpel und ich haben Kippenstummel gesammelt und in einen Tee geworfen. Den haben wir getrunken. Wir wollten uns vergiften, wollten sterben. Ich bin nicht gestorben - mein Freund schon. Sein Name war Aleksander." Fjodor Grizyuk Timofejewitsch, Kostopol, Ukraine „Ich weiß nicht, wie wir das alles überlebt haben. Vielleicht, weil wir jung waren." Lubow Kotez, Pawlograd, Ukraine Die Befreiung „Die Stadt wurde bombardiert, es war furchtbar. Die amerikanischen Truppen sind nach Dessau gekommen. Wir, eine Gruppe von Kindern, sind der Sowjetarmee entgegengelaufen." Sinaida Kirejewa Petrowna, Gomel, Belarus „Dessau lag in Ruinen. Als wir durch die Stadt liefen, kehrten die Flugzeuge zurück und die Bombardierungen gingen wieder los. Wir rannten in den Keller eines zerstörten Hauses. Da harrten wir zwei Tage lang aus." Jewgenija Michailowa Adamenko, Berezan, Ukraine „Wir wurden von der Roten Armee befreit. Wir standen gerade auf einem Feld, als die Sowjetsoldaten auf Pferden angeritten kamen. Wir wurden erst nach Moskau geschickt, dort wurden wir verhört. Danach bin ich nach Hause in mein Heimatdorf gefahren." Olga Gontscharowa Iwanowna, Antrazyt, Ukraine „Als es oben wieder ruhiger wurde, gingen wir raus. Es schien, als wäre der Krieg schon beendet. Die Stadt war voller amerikanischer Truppen, um sie herum standen amerikanische Panzer. Wir alle waren glücklich, dass der Krieg vorbei war. Im August 1945 kam ich zu Hause an. Ich war die erste meiner Familie, die zurückkehrte." Jewgenija Michailowa Adamenko, Berezan, Ukraine „Am 07. Mai 1945 wurden wir befreit und wir alle, die verschleppt worden waren, durften zurück in die Ukraine. Aber außer unseren Eltern hat uns dort nichts Gutes erwartet." Lubow Kotez, Pawlograd, Ukraine Das Leben danach „Als ich zurückkehrte, hatten wir das Sowjetregime. Für das, was ich gerade schreibe, hätten sie mich nach Sibirien geschickt. Deshalb habe ich niemandem erzählt, wo ich war und was ich gesehen habe. Jetzt darf ich das, aber leider ist es schon zu spät." Lubow Kotez, Pawlograd, Ukraine „Die Menschen, die während des Krieges für die Deutschen gearbeitet hatten, wurden danach nicht für leichte und gute Arbeiten angenommen, sondern für schwierige und dreckige. Im Jahr 1953 habe ich mich im Donbass in der Ukraine für ein Bergwerk beworben. Nach der Verteilung bin ich in die Bergbaustadt Antrazyt gekommen, wo ich bis heute lebe. Mittlerweile bin ich durch meine Krankheit ans Bett gefesselt." Olga Gontscharowa Iwanowna, Antrazyt, Ukraine „Ich bin schon 76 Jahre alt. Durch einen heißen Stahlspan von der Drehmaschine in den Junkerswerken in Dessau habe ich ein Auge verloren. Mein anderes Auge ist mittlerweile auch krank: Grauer Star. Eine Behandlung ist zu teuer." Lubow Kotez, Pawlograd, Ukraine „Ich kam zurück mit einem kranken Magen. All diese Jahre war ich krank. Wir hatten immer Hunger und haben an nichts anderes gedacht. Ich bitte Sie, meinen Aufenthalt in Deutschland als Zwangsarbeiter zu bestätigen." Fjodor Grizyuk Timofejewitsch, Kostopol, Ukraine „Mein Elend ist, dass ich kein Entschädigungsgeld bekomme, weil ich keine Unterlagen senden kann. Ich habe keine Auskunft, die bestätigt, dass ich mit Gewalt nach Deutschland verschleppt wurde, wo ich dort war und was ich gemacht habe." Olga Gontscharowa Iwanowna, Antrazyt, Ukraine „Der Kummer, den ich in meinen Jugendjahren erlitten habe, prägte mein Leben auf lange Sicht. So, das war meine Geschichte. Und jetzt versuchen Sie, mir zu helfen! Außer Ihnen gibt es niemanden. Nirgendwo gibt es Daten über mich, geborene Jewgenija Michailowna Gemskaja. Aber ich war doch dabei, oder nicht?" Jewgenija Michailowna Adamenko, Berezan, Ukraine „Ich hätte sehr gerne nochmal die Orte in Dessau gesehen: das Grab meiner Cousine und all der anderen, die während des Bombenhagels gestorben sind. Aber jetzt ist mir das nicht mehr möglich." Lubow Kotez, Pawlograd, Ukraine
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