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Harzer rocken in Afghanistan

Thale l Die graffitibesprühten Wände wackeln, der Boden bebt. Die Fenster des Jugendclubs Weddersleben, einem Ortsteil von Thale (Landkreis Harz), sind fest verschlossen, doch der Sound von Schlagzeug, Gitarre und Bass sucht sich seinen Weg nach draußen.

Probenpause. Kurz herrscht wieder Ruhe in dem beschaulichen Örtchen. Zweimal wöchentlich treffen sich Sänger Michael „Lecker" Bleu und seine Rockband „Formlos" hier, um an ihren Songs zu feilen. Diese Probe ist allerdings anders. Denn die fünf Bandmitglieder bereiten sich nicht auf einen Gig in Berlin oder Magdeburg vor, sondern für ein Konzert, das fast 6000 Kilometer entfernt von ihrer Heimat stattfindet. Ihr Ziel: der internationale Militärstützpunkt Camp Marmal in Masar-i Scharif, Afghanistan. Sie wollen nicht Bikern und Rockfans einheizen, sondern etwa 725 deutschen Soldaten.

Was treibt die jungen Männer aus dem Harz dazu, ausgerechnet in Afghanistan aufzutreten? Keiner von ihnen war beim Bund, und Afghanistan kannten sie nur als von Krisen gebeuteltes Land aus den Nachrichten. „Ich habe eine Reportage über Camp Marmal am Hindukusch gesehen", sagt Schlagzeuger Martin „Juppi" Juppe. Im Internet stieß der Bürokaufmann auf ein Angebot für Künstler, auf Stützpunkten in Einsatzgebieten der Bundeswehr aufzutreten. „Das wollte ich mit den Jungs auch."

Sein Vorschlag stieß anfangs auf wenig Begeisterung. „Unsere erste Frage war: Hast du eine Macke?", erinnert sich der angehende Metallbau-Lehrling Bleu. „Man hört doch nie Gutes aus Afghanistan." Inzwischen ist der Rest der Band von dem Vorhaben überzeugt, der Termin fest: Am Mittwoch geht's los.

Bassist und Musikinstrumentverkäufer Michael „Keule" Schumann klärt die Details zur Reise ab. „Jungs, wir haben leider Einzelzimmer." Kollektives Stöhnen. Die Band ist es gewohnt, beinahe jedes Wochenende zusammengepfercht in einem eigens umgebauten Wohnwagen zu verbringen, wenn sie einen Auftritt hat - und genießt das enge Zusammensein. „Wir verbringen mehr Zeit mit der Band als unseren Familien", sagt Bleu.

Seit 2011 spielen die fünf gemeinsam Deutschrock. In eine Schublade lassen sie sich nicht stecken.„Wir sind wie wir heißen: Formlos", sagt Lead-Gitarrist Enrico „Enno" Roth, der sich selbst als „Lebenskünstler" bezeichnet. Auf ihrem bislang einzigen Album „Der Falsche Weg" finden sich polit-kritische Songs gegen Krieg und Extremismus ebenso wie gefühlvolle Lieder. Auf speziellen Wunsch spielen sie auch Covertitel. Von ACDC, den Puhdys. Oder Helene Fischer. Je nachdem, was die Soldaten im Camp hören wollen.

Marmal hat rein gar nichts mit dem kuscheligen Wohnwagen gemein: Hochsicherheitstrakt, Zäune, Panzer, Wachen. Rund 1600 Soldaten aus etwa 20 Nationen sind dort zurzeit im Einsatz. Im April wurde das Camp das erste Mal seit vier Jahren angegriffen, nur Sachschaden. „Wenn es nicht vertretbar wäre, würden wir die Künstler nicht nach Masar-i Scharif fliegen", erklärt Oberstleutnant Thomas Kolatzki vom Einsatzführungskommando in Potsdam, das für die Truppenbetreuung im Ausland zuständig ist, auf Volksstimme-Nachfrage. „Ein gewisses Restrisiko bleibt immer bestehen. Darauf weisen wir die Künstler hin."

Die Musiker werden vor Ort rund um die Uhr von einem Soldaten begleitet, um sicherzustellen, dass im Ernstfall die richtigen Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Nur die Landung und der Abflug bereiten der Band ein mulmiges Gefühl. Weil Flugzeuge gerade dann ein leichtes Ziel für Aufständische sind, landen und starten die Maschinen schnell und steil.

„Wir wollen unsere Truppen unterstützen, damit sie nicht vergessen werden", erklärt Gitarrist Jonas „Georg" Schlieter, der als Kfz-Mechaniker arbeitet. Juppe stimmt ihm zu: „Mit so einer Party kommen sie endlich mal aus dem Alltagstrott heraus!"

Die sogenannten Betreuungsveranstaltungen sollen die Motivation der Soldaten aufrechterhalten, so Oberstleutnant Thomas Kolatzki. Im vergangenen Jahr reisten etwa ein Dutzend Künstler, unter ihnen Xavier Naidoo, ins Camp.

Dass sie das Richtige tun, da sind sich die Harzer sicher. Positiven Zuspruch gab es von Freunden, Arbeitgebern und Fremden. So wie von einer Frau aus Halle, die ihren Sohn in Afghanistan verloren hat, und ihnen per E-Mail gut zuredete.

Ob sie aufgeregt sind, vor Soldaten zu spielen? „Ich habe eigentlich kein Kribbeln mehr im Bauch - aber dieses Mal schon", sagt Juppe.

Vorher gibt es noch ein Abschiedsgrillen mit Verwandten und Freunden. „Hoffentlich werden unsere Eltern und Freundinnen nicht sentimental. Es soll ein freudiger Anlass sein", sagt Bassist Schumann. Er hat von der Tochter seiner Freundin eine Strichmännchen-Zeichnung bekommen, die er als Glücksbringer mitnimmt. „Ich glaube, wir werden das Ganze erst realisieren, wenn wir im Landeanflug sind."

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