Tessa Ganserer ist die erste deutsche Abgeordnete, die sich öffentlich als transident geoutet hat. Nun will sie dafür sorgen, dass die Anliegen von Transmenschen in der Politik endlich ernst genommen werden.
Von Sophie Madeleine Garbe und Lukas Waschbüsch
Für Tessa Ganserer fühlt es sich immer noch an wie ein ständiger "öffentlicher Seelenstriptease". Der kostet sie täglich Kraft, und doch ist Ganserer die Ermüdung nicht anzusehen. Aufrecht sitzt sie in ihrem Stuhl, das Kinn leicht nach vorn gestreckt, die Hände im Schoß gefaltet. Vielleicht lässt sich dem Interesse an ihrem Kampf nur so begegnen: mit Ruhe, mit Selbstbewusstsein, mit kontrollierter Klarheit.
Seit einem Jahr steht Tessa Ganserer nicht nur als Politikerin, sondern auch mit ihrer persönlichen Geschichte in der Öffentlichkeit. Denn vor einem Jahr outete sie sich als erste deutsche Abgeordnete als transident. Als Markus Ganserer war sie 2018 zum zweiten Mal für die Grünen in den bayerischen Landtag eingezogen. Statt Markus sitzt nun Tessa im Plenarsaal. Eine Transfrau macht Politik im konservativ regierten bayerischen Landtag, nur wenige Reihen von der AfD entfernt.
Ganserer schreckte lange vor einem öffentlichen Outing zurück: "Ich war mir nicht sicher, ob ich dem emotional gewachsen bin." Und tatsächlich ist seitdem viel auf sie eingeprasselt: Die Fraktionskollegen standen Schlange, um sie zu umarmen und ihr zu gratulieren. Fremde schickten ihr bewundernde Nachrichten und wünschten ihr Glück.
Aber es gibt auch jene, die sie im Internet beleidigen und sich über sie lustig machen. Oder die AfD-Abgeordneten, die bei der Verkündung von Landtagspräsidentin Ilse Aigner, dass Ganserer von nun an als Frau zu adressieren sei, lieber die Hände im Schoß liegen ließen als zu applaudieren.
Ärger lässt sich Ganserer in solchen Momenten dennoch nicht anmerken, von Beleidigung und Ablehnung erzählt sie mit unbewegter Miene. Die Grünen-Politikerin ruht in sich, zumindest wirkt es nach außen so. Den Schritt an die Öffentlichkeit bereut sie nicht: "Ich bin wahnsinnig froh, dass ich da stehe, wo ich heute bin."
Ein Leben in innerer Zerrissenheit
Ihre Geschichte gleicht einer Suche nach sich selbst: Schon als Kind habe sie gemerkt, dass sich etwas nicht richtig anfühlt. Lange verdrängte sie diese Gefühle, konnte die Sehnsucht nach einem anderen Leben jedoch nie ganz abschütteln. Mit Ende 20 erlebt Ganserer dann, was sie als Schlüsselmoment beschreibt: Sie schminkt sich, zieht Perücke und Kleid an. "Das war ein Gefühl, wie wenn ein kleines Kind sein Spiegelbild zum ersten Mal so richtig bewusst erkennt." Ganserer beginnt nun, ihr Frausein auszuleben, allerdings heimlich und immer nur für wenige Stunden - wenn sie die Wohnung, die sie mit ihrer Frau teilt, für sich hat.
Ganserer kauft Kosmetika und Kleider, um dann doch wieder alles wegzuschmeißen. "In der Hoffnung, ich könnte das so loswerden." Sie wird es nicht los. Stattdessen findet Ganserers Frau im Bad irgendwann Kosmetikartikel, die nicht ihr gehören - und stellt sie zur Rede. Ganserer erklärt ihr, dass sie kein Mann, sondern eine Frau ist. Von da an teilt das Paar Ganserers Geheimnis. Ihre Ehe habe das gestärkt, sagt Ganserer. Die beiden sind immer noch zusammen. Heute kämpfen sie gemeinsam für die Rechte von Transsexuellen, stellen sich zusammen der Öffentlichkeit.
Ihren Beruf hält Ganserer lange strikt getrennt von ihrem Privatleben. In der Politik tritt sie weiter als Markus Ganserer auf. Nur im Privaten erlaubt sie sich, Frau zu sein. Sie schminkt sich vor dem abendlichen Kinobesuch, geht in Perücke und Kleid einkaufen.
Die Sorge, von jemandem erkannt zu werden, ist zu dieser Zeit groß - die Sehnsucht, Frau zu sein, aber noch größer. "Es war für mich die Hölle, nach einem schönen Tag als Frau wieder in die männliche Rolle zurückschlüpfen zu müssen", sagt Ganserer.
Dennoch lebt sie jahrelang in dieser Zerrissenheit. Sie will sich nicht outen, fürchtet sich vor den Reaktionen. Aber auch der Einsatz, den der Staat damals von Transsexuellen verlangt, ist ihr zu hoch. "Wenn ich 2006 in Transition gegangen wäre, dann würden meine beiden Söhne heute nicht leben", erklärt Ganserer.
"Das Transsexuellengesetz ist Menschenrechtsverletzung"
Denn bis 2011 zwang das deutsche Transsexuellengesetz Betroffene zu einer Sterilisation. Wer in seinen Dokumenten das Geschlecht ändern lassen wollte, musste dafür den Wunsch nach eigenen Kindern aufgeben. Von einem Gericht sei die Änderung der Geschlechtszugehörigkeit nur dann festzustellen, wenn die betroffene Person "dauerhaft fortpflanzungsunfähig ist". Erst 2011 entschied das Bundesverfassungsgericht: Diese Klausel verstößt gegen das Grundgesetz. Sie wird seither nicht mehr angewandt, steht aber weiterhin im Gesetzestext.
2006 steht Ganserer also noch vor der Entscheidung: Kinder bekommen oder offen als der Mensch leben, der sie ist? Sie entscheidet sich für die Chance auf Nachwuchs. "Es war für mich nicht vorstellbar, auf Kinder zu verzichten." Nicht lange nach der Entscheidung kommt ihr erster Sohn zur Welt.
"Das Transsexuellengesetz ist Menschenrechtsverletzung", sagt Ganserer heute. Trotzdem prägt das Gesetz weiterhin die Rechtslage. Wer seinen offiziellen Geschlechtseintrag ändern lassen will, muss sich immer noch von zwei Ärzten bescheinigen lassen, dass er oder sie tatsächlich transsexuell ist.
Für Ganserer steht fest, dass sie sich diesen Bestimmungen nicht beugen wird - auch wenn das bedeutet, dass in ihrer Geburtsurkunde weiterhin "männlich" steht. "Ich werde nicht einen Richter darüber entscheiden lassen, ob ich der Mensch sein darf, der ich bin. Ich möchte meine Menschenwürde behalten dürfen, und ich verlange von diesem Staat, dass er mich akzeptiert."
Auch die Anpassung ihres Äußeren ist für Ganserer mit Hürden verbunden. Ihre Haare trägt sie bereits lang und blond, die Sakkos hat sie gegen Seidenblusen getauscht, und mit einer Logopädin arbeitet sie daran, ihre Stimme weiblicher klingen zu lassen.
"Ich kann meinen Bart ja nicht wegmeditieren"
Aber um aufwendigere Behandlungen von der Krankenkasse finanziert zu bekommen, muss Ganserer zwölf Monate lang eine Psychotherapie machen. Nur dann bekommen Transpersonen zum Beispiel eine Hormonbehandlung oder können ihren Bart weglasern lassen. Ganserer hält das für einen unhaltbaren Zustand: "Ich nehme einem Menschen, der dringend eine Psychotherapie bräuchte, den Therapieplatz weg." Dennoch ist sie auf die Behandlungen und damit auch auf die Therapie angewiesen: "Ich kann meinen Bart ja nicht wegmeditieren."
Als queerpolitische Sprecherin der Grünen setzt Ganserer sich daher dafür ein, dass sich die Rechtslage für Transpersonen ändert. Das Transsexuellengesetz will sie abschaffen, in der Frage nach der medizinischen Betreuung plädiert sie für Einzelfallentscheidungen. Bewegt hat sich bisher jedoch wenig. Eine Neuformulierung des Transsexuellengesetzes scheiterte im Sommer, als die damalige Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) und Innenminister Horst Seehofer einen entsprechenden Vorschlag erarbeiteten, ihn nach lauter Kritik der Betroffenenverbände aber wieder in der Schublade verschwinden ließen.
Gerade die konservativen Parteien im Land nähmen die Anliegen der Betroffenen nicht ernst, sagt Ganserer. "Da stellt sich eine Politikerin wie Annegret Kramp-Karrenbauer hin und macht sich über Minderheiten lustig." Sie spielt auf den Karnevalsauftritt der CDU-Vorsitzenden im Frühjahr 2019 an, als diese Witze über Intersexuelle machte. Gleichzeitig blockiere Kramp-Karrenbauer Gesetze, die es Minderheiten erleichtern würden, ihre Rechte wahrzunehmen, klagt Ganserer.
Wenn sie über die Rechtslage für Transpersonen und den stockenden Änderungsprozess spricht, weicht Ganserers kontrollierte Ruhe einer forschen Entschlossenheit. Sie ist Politikerin und Betroffene, ihr persönlicher Kampf ist nun auch ein politischer geworden: "Transpersonen müssen es in Zukunft leichter haben, damit sie sich nicht wie ich ihr halbes Leben lang quälen."