Mit 40 noch einmal neu beginnen: Mit der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts steigt auch die Zahl der Menschen, die in der Lebensmitte einen neuen Beruf ergreifen.
Von Söhnke Callsen
Eigentlich war es eine Schnapsidee. Auf einer Weihnachtsfeier am Hamburger Hafen sprach Maike Brunk zum ersten Mal über ihren Traum vom eigenen Unternehmen. Sie würde gerne alles hinschmeißen und etwas ganz Neues wagen, verriet sie einem Barkassenkapitän zu vorgerückter Stunde. "Machen Sie doch Hafenrundfahrten zu den weniger touristischen Elbinseln", erwiderte der. Das war die Idee!
Die Wirtschaftsinformatikerin arbeitete damals in einem Hamburger Softwareunternehmen. Richtig zufrieden war sie mit ihrem Beruf aber nicht mehr. "Irgendwann hatte ich genug von Workflowmanagement und Prozessoptimierung. Das konnte doch nicht alles sein", erzählt Brunk. Also bildete sie sich weiter, studierte noch einmal Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Tourismus in einem Fernstudium.
Ihrem Arbeitgeber erzählte sie von dieser Weiterbildung nichts. Als ihr Chef von den Extraaktivitäten seiner Mitarbeiterin erfuhr, krachte es. Brunk verließ das Unternehmen. Die 39-Jährige erinnerte sich an das Gespräch mit dem Kapitän. Hafenrundfahrten - dieses Vorhaben kam ihren neuen Interessen im Bereich Tourismus entgegen. Also las die Informatikerin über Hamburgs Geschichte alles, was sie finden konnte, schrieb einen Businessplan für ihr Unternehmen und gründete schließlich. Aus der Schnappsidee wurde ein Geschäftsmodell.
Jetzt, drei Jahre später, steht Maike Brunk auf den schaukelnden Planken der MS Speicherstadt. Das Schiff hat sie gemietet. Ihre Hosenanzüge hat sie gegen eine maritime Kluft eingetauscht. "Hamburger Elbinsel-Tour" prangt auf ihrem blauen Poloshirt. Die Marke hat sich die Unternehmerin 2009 gesichert. Die Gischt spritzt an die Fenster, als die kleine Barkasse an der Kaimauer ablegt und Kurs auf die Elbinseln nimmt. Inzwischen tourt Brunk über hundert Mal im Jahr auf der Elbe, bietet offene Sonntagstörns oder individuelle Führungen für Betriebe an.
Existenzgründungszuschuss
Der Gründungszuschuss wird in zwei Phasen geleistet: Für neun Monate gibt es den Zuschuss in Höhe des zuletzt bezogenen Arbeitslosengeldes. Danach können Gründer für sechs weitere Monate 300 Euro für ihre soziale Absicherung bekommen - jedoch nur, wenn sie mit ihrem Unternehmen Einnahmen erzielt haben. Anspruch auf den Gründungszuschuss haben alle, die bis zur Gründung noch mindestens 90 Tage Arbeitlosengeld I bekommen hätten.
Wer vor seiner Gründung Arbeitslosengeld II bezogen hat, bekommt das sogenannte Einstiegsgeld. Über die Genehmigung entscheidet der Arbeitsberater. Die Höhe wird nach der monatlichen Regelleistung des Arbeitslosengeld II berechnet.
Mit ihrem Unternehmen kommt Brunk mittlerweile gut über die Runden. Das war nicht gleich so. Touren zu den untouristischen Stadtteilen Wilhelmsburg und Veddel - da musste sie erst die Kunden überzeugen. Auch ihre Freunde warnten sie. "Das will doch keiner sehen, sagten die meisten, denen ich von meinen Plänen erzählte", erinnert sich die Hamburgerin. "In der Anfangszeit hatte ich die Miete für das Schiff kaum wieder raus und musste nebenbei für zehn Euro in der Stunde beim Juwelier arbeiten."
Trotz der Widrigkeiten ist die Hamburgerin froh, dass sie in der Mitte des Berufslebens noch einmal etwas Neues gewagt hat. Der Berufswechsel im Erwachsenenalter kommt immer häufiger vor. Oft wagen Angestellte nach einigen Berufsjahren den lang ersehnten Schritt in die Selbständigkeit. So stieg in den vergangenen Jahren die Zahl der Neugründungen, hat das Institut für Mittelstandsforschung herausgefunden. Besonders erfolgreich sind Gründer, die bereits viel Berufserfahrung haben - und ihr Wissen aus ihrem alten Job einbringen. Die größte Gruppe der erfolgreichen Unternehmensgründer stellen mit gut einem Drittel die 35- bis 44-Jährigen.
Vom Versicherungsvertreter zum Fotografen
Einer von ihnen ist Marc von Hacht. Der Bankkaufmann arbeitete mehr als zehn Jahre lang bei verschiedenen Kreditinstituten, erst im Kundenservice, später als Spezialist für Versicherungen. Wegen einer akuten Blinddarmentzündung musste er im Job aussetzen und kürzer treten.
Als er zurückkehren wollte, hatte sich sein Gefühl für den Job und die Firma grundlegend verändert. "Ich hatte plötzlich den Eindruck, dass man mich loswerden wollte", erzählt er. Von Hacht fühlte sich nicht mehr wohl bei der Arbeit, nicht mehr wohl mit seinem Beruf, aber dafür umso wohler, wenn er seinem Hobby nachging - der Fotografie.
Schließlich kündigte er seinen Job bei der Bank und machte sich als Fotograf selbständig. Zum Glück hatte er gespart und so konnte er einen Teil seines Gründungszuschuss vom Arbeitsamt in seine Ausrüstung investieren: Stativ, Blitzlicht und Kamera - schnell hatte er ein mobiles Fotostudio beisammen. Mit dem tourt er seither durch Deutschland, fotografiert Veranstaltungen, Hochzeiten, Familienfeiern. Nicht immer ist die Auftragslage gut. "Natürlich bot mir mein alter Beruf mehr Sicherheit und ein gutes Gehalt", sagt er. "Aber die Freiheit, das zu tun, was ich liebe, ist mehr wert."
Exit-Strategie nennt es Andrea Schottelius, wenn Menschen mitten im Berufsleben den Beruf wechseln. Schottelius arbeitet als Coach und Berater und hat schon viele Klienten während eines Berufswechsel begleitet. "Es ist heutzutage nicht mehr so, dass man seinen ursprünglichen Beruf bis zum Rentenalter ausübt. In den Lebensläufen ist viel mehr Bewegung drin." Allerdings warnt sie vor zu schnellen Schlüssen. Nicht immer sei ein Berufswechsel die richtige Lösung. "So ein Schritt bedarf gründlicher Vorbereitung. Man muss sich genau informieren, ob der neue Job wirklich passt."
Doch diese gründliche Vorbereitung scheint häufig zu fehlen. Viel zu schnell suchen vor allem Menschen, die ihren Job verloren haben oder von einer Kündigung bedroht sind, einen Ausweg in der Selbständigkeit. Doch nur ein kleiner Teil von ihnen ist als Selbständiger auch erfolgreich, sagt Marc Evers, Grundüngsexperte des Deutschen Industrie- und Handelkammertags. "Zwei Drittel der arbeitslosen Gründungsinteressierten kann die Vorzüge der eigenen Geschäftsidee nicht benennen." Rund ein Viertel der Neugründungen ist nach drei Jahren wieder vom Markt verschwunden, wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau berechnet hat.
Wellness statt Mercedes
Ilonka Seeling hofft, dass ihr Unternehmen nicht dazu gehören wird. Im vergangenen Jahr eröffnete sie ihr eigenes Wellness-Studio in einem Hamburger Technologie-Zentrum. Wer zu Seelings Ruhe-Insel will, muss erst die verwinkelten Flure des modernen Bürokomplexes durchqueren, vorbei an Menschen in Anzügen, die auf Bildschirme blicken. Am Ende des Ganges taucht dann Seelings kleine Oase auf. 18 Quadratmeter in matten Rot- und Brauntönen, in der Mitte eine einladende Massageliege. Im Salon ertönen leise Entspannungsklänge. Auch wenn der Standort fremd anmutet, Seeling ist mit der Lage der Räume zufrieden. "Hier gibt es viele gestresste Geschäftsleute", erzählt sie.
Entspannung bei der Arbeit, das hätte sie früher auch gerne gehabt. Früher arbeitete die 47-Jährige bei Mercedes, zunächst als Sekretärin, später als Team-Assistentin. "Es war ein ständiger Kampf um gute Posten, es war anstrengend", sagt sie. Als ihr das Unternehmen 2008 ein lukratives Abfindungsangebot machte, unterschrieb sie den Ausscheidungsvertrag gerne. Auch wenn es ein wenig schmerzte, nach 27 Jahren im Betrieb ausgemustert zu werden.
Früher schrieb sie Rechnungen und kopierte Akten, heute verwöhnt sie ihre Kunden mit Kräuterstempeln und Hot-Chocolate-Massagen. Doch zunächst musste Seeling investieren, allein die vollautomatische Massageliege mit eingebautem Soundsystem kostete sie 6.000 Euro. "Noch habe ich die Ausgaben nicht wieder drin", gesteht sie.
Ihrem alten Job trauert sie nicht nach. Und ganz aus der Welt ist der frühere Arbeitgeber nicht. Das Daimler-Werk liegt nur 500 Meter von Seelings Wellness-Oase entfernt. Manchmal komme ein ehemaliger Kollege zur Behandlung vorbei, erzählt sie. Wenn wieder einmal der Rücken zwickt, nach einer langen Schicht im Büro.