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Bundesländer fordern Freiheitsstrafe für Gaffer

Schaulust: Menschen beobachten eine Unfallstelle. | © NW-Archiv

Bundesrat berät über einen Gesetzentwurf / NRW begrüßt den Schritt


Bielefeld. Niedersachsen und Berlin tragen heute einen Gesetzentwurf in den Bundesrat, der eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr für Gaffer vorsieht. Auch die Polizeigewerkschaft spricht sich für höhere Strafen gegen Gaffer aus, die Unfälle filmen und Einsatzkräfte behindern.


„Das Phänomen des Gaffens zeigt eine gesellschaftliche Verrohung", sagt Christoph Schöneborn, Geschäftsführer des Verbands der Feuerwehren NRW. Das Problem besteht in den Begleiterscheinungen: Einsatzkräfte werden behindert, es gibt Auffahrunfälle, die Persönlichkeitsrechte Verletzter werden missachtet, Anweisungen von Polizei und Feuerwehr ignoriert. „Manche bitten sogar Beamte, an die Seite zu treten, damit sie filmen können", sagt Stephan Hegger von der Gewerkschaft der Polizei NRW.


Zwar hat das Land NRW Sichtschutzwände angeschafft, die kommen laut Hegger aber oft zu spät zur Einsatzstelle. Den Schaulustigen die Sicht zu nehmen, gelinge in der Praxis kaum. „Es fehlt eine rechtliche Handhabe gegen Gaffer", so Hegger.


Nach aktueller Rechtssprechung gilt eine Behinderung von Einsatzkräften nur dann als solche, wenn sie unter Androhung oder Ausübung von Gewalt erfolgt. Als „Behinderung" soll laut neuem Entwurf alles gelten, was Hilfsmaßnahmen erschwert – auch „das bloße Sitzen- oder Stehenbleiben oder Nichtentfernen von Zugangshindernissen". Das Fotografieren an Unfallstellen und das Fertigen und Verbreiten von Aufnahmen Verstorbener sollen zur Straftat werden.


Eckhard Schwill, Justiziar der Komba-Gewerkschaft, erklärt, wie man sich richtig verhält: „Ist kein Rettungswagen an der Unfallstelle, muss Hilfe geleistet werden, sonst ist das strafbare unterlassenen Hilfeleistung. Trifft der Notarzt ein, hat niemand sonst einen Grund, sich dort aufzuhalten. Die Unfallstelle ist dann zu verlassen." Für das Anfertigen von Fotos bestehe kein Grund – außer für Journalisten. „Die sind durch die Pressefreiheit geschützt."


Wie Schwill begrüßen auch Schöneborn und Hegger den Gesetzentwurf. Beide befürchten aber Probleme in der Umsetzung. Schöneborn führt Personalmangel an, Hegger hält die Aufnahme von Personalien Schaulustiger am Einsatzort für unrealistisch. Aber: „Ist Gaffen eine Straftat, kann das Smartphone als Beweismittel einkassiert werden. Das könnte abschrecken."


Gespannt auf die Diskussion des Entwurfs ist auch das Innenministerium NRW. „Wir sehen ihn als Versuch, eine rechtliche Lücke zu schließen", sagt Sprecherin Nadja Kwasny.


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Kommentar


Das Fotografieren an Unfallstellen unter Strafe zu stellen, ist richtig. Die laut Einsatzkräften häufig verwendete Ausrede, man wolle Medien mit den Fotos beliefern, darf nicht gelten, wenn dadurch Leben gefährdet werden. Diejenigen, die in brisanten Situationen fotografieren dürfen, sind Journalisten und verfügen über einen Presseausweis.


Grundsätzlich gilt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar". So lautet Absatz 1 des Grundgesetzes. Dass dieser Satz an erster Stelle steht, hat einen Grund: die Menschenwürde ist allem übergeordnet.


Welche Gründe gibt es, an Unfallstellen anzuhalten und das Smartphone zu zücken? Ganz klar, um den Notarzt zu alarmieren, sollten noch keine Rettungskräfte vor Ort sein.


Welche Gründe gibt es, an Unfallstellen Fotos anzufertigen? Keine. Wenn der Gaffer angibt, sein Foto nicht verwerten zu wollen, worin bestand dann der Sinn eines anzufertigen? Wiegt ein sinnlos gemachtes Foto den für Rettungskräfte verursachten Zeitverlust auf? Wohl kaum. Wer meint, sich im Internet mit derlei Bildern profilieren zu müssen, sollte sich in die Lage des Verunfallten versetzen. Wie fühlt es sich an, einen schweren Unfall erlebt zu haben, völlig benommen und auf Hilfe angewiesen auf der Straße oder im zerquetschten Auto zu liegen und wahrzunehmen, wie sämtliche Smartphones auf einen gerichtet sind? Es vergeht Zeit, in der den Verunfallten das Gefühl überkommt, der Rettungswagen werde nicht rechtzeitig eintreffen, denn Autos versperren den Weg.


Wie wenig Einfühlungsvermögen darf gesellschaftlich erlaubt sein? Diese Frage steht hinter dem Gesetzesentwurf über den der Bundesrat heute berät. Dass in Unfallsituationen zu wenig Achtung vor der Würde des Verunfallten strafbar gemacht wird, ist notwenig. Aber auch umsetzbar?


Dass Zeit für das Aufnehmen von Personalien der Schaulustigen verloren wird, wenn es um Leben und Tod geht, ist nicht hinnehmbar. Polizisten fotografieren teilweise schon jetzt Gaffer um sie im Nachgang ausfindig zu machen. Helfen könnte auch der Einsatz von Schulterkameras. Das, was Gaffer aber sofort abschrecken könnte, ist der Einzug des Smartphones durch Polizeibeamte. Damit das möglich wird, muss der Entwurf zum Gesetz werden.




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